Festrede in der Stiftsruine Lullusfest 2022

Guten Abend meine Damen und Herren,
sehr verehrter Herr Bürgermeister Fehling,
sehr geehrter Herr Feuermeister,
sehr geehrte Gäste aus den Partnerstädten,
verehrte Gäste aus Nah und Fern,
liebe Bürgerinnen und Bürger,
liebe Kinder und Jugendliche
und auch alle anwesenden Schaustellerinnen und Schausteller möchte ich herzlich begrüßen.

Endlich — nach zwei Jahren Zwangspause gibt es wieder ein „Lolls“ in Bad Hersfeld.

Es ist mir eine Ehre, in diesem besonderen Jahr die Festrede, in diesem außergewöhnlichen Ambi-ente zu halten. 
Ich bin das 1. Mal in Bad Hersfeld und Sie werden sich fragen, welchen Bezug, ausgerechnet eine Kölnerin, zu ihrem Volksfest hat.
Ich bin gebürtige Schaustellerin und meine Familie mütterlicher- und väterlicherseits sind seit vielen Generationen mit Fahr- und Verkaufsgeschäften unterwegs.
Als aktive Schaustellerin habe ich Kunstgeschichte, Geschichte und Germanistik studiert.
2013 habe ich über das Kultur Volksfest promoviert und 2017 das Online – Kulturgut – Volksfest-Archiv gegründet.
Seit mehr als 20 Jahren beschäftige ich mich intensiv mit der Geschichte der deutschen Volksfest-Kultur — und diese Aufgabe hat mein Leben ungemein bereichert.

Die Volksfest-Kultur hat in über 1000 Jahren viele Kriege, im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege,
im 19 Jahrhundert sogar innerhalb von 20 Jahren zwei Cholera -Epidemien überstanden.
Zu vielen Zeiten wurden in der Vergangenheit Volksfeste im deutschsprachigen Raum abgesagt.
Niemand hätte geglaubt, dass im 21. Jahrhundert noch einmal eine Pandemie die Aussetzung der Volksfeste erfordern würde und sich zwei Jahre lang kein Karussell mehr drehen würde.
Niemand hätte es noch weniger für möglich gehalten, dass im Jahre 2022, nur wenige Autostunden von uns entfernt, ein sinnloser Krieg — ein Land zerstört, Menschen ihre Heimat und oft auch ihr Leben verlieren.
Der ungewissen Zukunft dieser Menschen gehört unser aller Mitgefühl.

Aber heute Abend wollen wir fröhlich sein.
Wir stehen an diesem historischen Ort, der größten Ruine einer romanischen Kirche, die durch die Festspiele und ihr Lullusfest lebendig gehalten wird und das ist gut so.
Denn auch das Kulturgut Volksfest ist immer noch lebendig und lässt sich durch nichts unterkriegen.
In der gesamten Bundesrepublik finden etwa 9.750 große und kleine Volksfeste statt, die jährlich von etwa 190 Millionen Menschen besucht werden.
All diese Volksfeste haben bis heute nie ihren Reiz und Charme verloren.

Volksfeste gehören zu den ältesten, immateriellen Kulturgütern in Europa.
Sie sind älter als Oper- oder Schauspiel-Aufführungen oder Museen, älter als Sportveranstaltungen, älter als alles, was das heutige Freizeitangebot ausmacht.
Volksfeste verbinden schon über ein Jahrtausend die Menschen auf eine faszinierende Weise.
Sie stärken das Heimatgefühl. Sie stehen für Tradition und Brauchtum in ihrer Region.
Volksfeste fördern den kulturellen Austausch und, was gerade in unserer Zeit so von Bedeutung ist, die Integration.
Sie sind Treffpunkt unserer Jugend.
Ohne Eintrittsgelder für den Festplatz sind alle Menschen, Jung oder Alt, gleich welcher Herkunft, Religion, Weltanschauung, körperlicher oder seelischer Verfassung etc., herzlich willkommen pure Lebensfreude zu genießen.
Und diese ist in Bad Hersfeld für die nächsten Tage angesagt.

Ist es nicht erfrischend, wenn ältere Menschen sich an den ersten Kuss auf der Raupe, den besonderen Gewinn an einer Losbude oder die selbst geschossene Blume für die Herzdame erinnern. 
Ist es nicht oft abenteuerlich, wenn Jugendliche ihre Fahrkünste auf dem Autoskooter testen, wenn sie sensationelle Karussells oder traditionelle Belustigungen aktiv oder passiv erleben.
Zaubert es uns Eltern und Großeltern nicht ein Lächeln auf das Gesicht, wenn unsere Kleinen begeistert die Fahrt in einem Feuerwehrauto, in einem Flugobjekt oder beim Entenangeln erleben.
Lassen uns nicht alle, die bunten Bilder, die Geräusche und die wunderbaren Gerüche, für ein paar tolle Tage unsere Alltagssorgen vergessen.
Das alles macht ein Volksfest — ein Volksfest, wie Ihr Lullus-Fest – aus.

Sehr geehrte Anwesende,
Ihr Lullus-Fest ist weit über ihre Landesgrenze hinaus bekannt.
Sie alle wissen, dass dieses Fest zum Gedächtnis an den Todestag des Heiligen Lullus“, den Erzbischof von Mainz und Gründer der Reichsabtei Hersfeld gefeiert wird.
Von 852 an soll am Todestag des „Heiligen Lullus“ ein Kirchenfest für das gesamte Volk, also ein Volksfest, gefeiert worden sein.
Diese Jahreszahl ist entscheidend für die Feststellung, dass das Lullus-Fest in Bad Hersfeld das älteste Volksfest Deutschlands ist.
Und als solches geschützt werden sollte.
Außerdem ist es das einzige Volksfest, das montags beginnt. 
[Nachtrag der Verfasserin: Leander Petzoldt schreibt 1983: „Die erste urkundliche Erwähnung des Lullusfest und des damit verbundenen Jahrmarktes findet sich in einer Urkunde vom 16.11.1326.“]

Mit dem feierlichen Anzünden des Lullus-Feuers, der sogenannten „Fierche“, und dem Läuten der Lullus-Glocke, der ältesten Glocke Deutschlands, wurde viele Jahrhunderte lang die Lullus-Freiheit eingeführt.
Es gäbe vieles zu erzählen:
von den Wollwebern, die ihr selbstgemachtes Tuch verkaufen durften.
Von der Bretterbude, in der Bier und Wein ausgeschenkt wurde.
Vom Brauch zum Wein Walnüsse zu essen, vom obligatorischen Ruf „Bruder Lolls“, usw.
Meine Redezeit von 10 Minuten würde nicht ausreichen, die Geschichte des Lullus-Festes näher zu betrachten.
Ohne Zweifel wird, seit damals bis heute — genau wie bei uns in Köln zu Karneval — jedes Jahr auf ein Neues, die ganze Stadt –– in einen Ausnahmezustand versetzt.

Als Kunsthistorikerin interessierte mich natürlich, ab wann die ersten modernen Karussells, Schiffschaukeln und Spielgeschäfte in Bad Hersfeld erwähnt werden.
Ich fand die Zahl 1896.
Dies deckt sich mit der Erkenntnis, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit der Industriellen Revolution, die Volksfeste einen enormen Wandel bei den Volksfestattraktionen erleb-ten.
Diese Entwicklung haben wir dem Mut, der Neugier und der Risikobereitschaft der ersten professionellen Hersteller zu verdanken.
Wir finden große Namen in der Geschichte des deutschen Karussellbaus, wie Fritz Bothmann, Friedrich Heyn, Hugo Haase, Friedrich Wilhelm Siebold u.a.
Diese Männer führten mit ihren Konstruktionen und Ideen das Schaustellergewerbe in seine 1. Blütezeit. Bereits um die Jahrhundertwende hatten die deutschen Fahrgeschäfte den Weltmarkt erobert.
Nach 1945 wurde Heinrich Mack im Westen marktführend. Es folgten Kaspar Klaus, Anton Schwarzkopf, Andreas Dietz, Heinrich Huss und andere.
Sie alle orientierten sich an Bauformen, die aus der klassischen Architektur bekannt sind:
den Rundbau für Karussells,
den Hallenbau für Autoskooter, Geisterbahnen und Belustigungsgeschäfte,
den Skelettbau für Achterbahnen, Riesenräder und Fliegerkarussells
sowie den Pavillonbau für Spiel- und Verkaufsgeschäfte.

Auch bei den Dekorationen finden wir Vorbilder in der bildenden Kunst.
Zitate von Barock oder Rokoko bis hin zur Pop Art.
Alles ist vertreten.

Liebe Festtagsbesucherinnen und -Besucher,
schließlich komme ich noch zu den Schaustellerfamilien.
Ohne sie, ohne uns, denn ich gehöre auch dazu, gäbe es keine modernen Volksfeste.
Schaustellerinnen und Schausteller sind es, die gemeinsam mit den Veranstaltern, den Ordnungsbehörden, den örtlichen Elektrofirmen und den unzähligen Menschen, die im Hintergrund einer solchen Veranstaltung agieren, die Verantwortung zum Gelingen eines Volksfestes übernommen haben.
Gerade in Bad Hersfeld spürt man das gute respektvolle Miteinander der Stadtverwaltung und der Schausteller und Schaustellerinnen, die stets die Balance zwischen Tradition und Fortschritt ge-halten haben.

Schausteller üben ihren Beruf als mittelständische Gewerbetreibende meist im Familienverband aus. Sie mussten sich in der jüngsten Vergangenheit vielen Herausforderungen stellen und offen sein für alles Neue.
Anstelle Turbulenzen zu meistern, die das Leben auf den Festplätzen mit sich bringt, verkauften sie während der Corona-Beschränkungen in ihren Heimatstädten Mandeln, Bratwurst und dergleichen.
Dabei kamen ihnen ihre Flexibilität und Improvisationskunst zu Hilfe. So konnten sie ihre Existenzen sichern und die schwere Zeit überstehen.

Aber nun endlich, nach so langer Zeit, ist wieder Bewegung in unserer aller Leben gekommen
und die „Kirmesleute sind wieder mit ihren Wagen unterwegs“.

Eins darf ich Ihnen versichern,
Schaustellerinnen und Schausteller fühlen sich nicht nur ihrer Heimatstadt verbunden,
sie sind auch in der jeweiligen Stadt oder Gemeinde, in der sie ihre Geschäfte aufbauen, zu Hause — und somit, liebe Hersfelderinnen und Hersfelder,
sind sie Teil Ihrer Festgemeinde, Ihrer Stadt und für kurze Zeit Ihre Nachbarn.

Wir alle, stehen in den kommenden Monaten vor einer ungewissen Entwicklung der Corona-Pandemie,
Wir wissen nicht, wie es werden wird mit der Energieversorgung, der Umweltprobleme, der Personalfrage, der Preisentwicklung und vieles mehr.
Der Alltag wird nicht einfacher werden.
Deshalb sollte uns Menschen nichts davon abhalten, auch in den kommenden Jahren an unseren Traditionen festzuhalten und gemeinsam mit unseren Familien und Freunden unsere Volksfeste zu pflegen, zu bewahren und zu feiern.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen Allen ein schöner Lolls 2022!
Jetzt sollte ich wohl noch Ihren Ruf zum Auftakt des Lolls rufen —
Enner, zwoon drai, Bruuuuder Lools

Ungekürzte Rede von © Margit Ramus