Kirmes, Karussell und Karussellorgel um 1900
Internationale Beziehungen als Basis einer neuen Vergnügungsindustrie
Ohne Vernetzung sind Jahrmarkt und Freizeitpark, Geschöpfe der Freizeitindustrie, deren Anfänge im 19. Jahrhunderts liegen, nicht möglich. Reisen und Austausch von Ideen, Material und Personal auf lokaler wie auf internationaler Ebene, sind neben privaten und beruflichen Beziehungsnetzen unabdingbare Voraussetzungen für die Bereitstellung von ständig Neuem, Sensationellem und Überraschendem. Der ökonomische Erfolg der Vergnügungsindustrie hängt davon ab, inwieweit sie in der Lage ist, dem Publikum das gewünschte Erlebnis, „einen außergewöhnlichen Zustand der Wirklichkeitserfahrung“[1], zu garantieren. Moderne Technologie unterstützt die Entwicklung neuer Jahrmarktsattraktionen, aber auch die Vernetzungsstrategien der Hersteller und der Schausteller. Ihr immer größer werdender Aktionsradius erfordert bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Entwicklung neuer professioneller Organisationsformen, die teilweise heute noch bestehen.
Die Kirmes, bzw. der Jahrmarkt, wird in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu einem der bedeutendsten Vergnügungsorte der modernen Industriegesellschaft[2] und dient als Testmarkt für neue kommerzielle Unterhaltungsangebote[3]. Anknüpfend an die Geschichte von Märkten, Jahrmärkten, Messen und anderen festlichen Großveranstaltungen, wie Schützenfeste oder kirchliche Feste, die ihre Bedeutung bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts immer mehr verloren[4], nutzt die Vergnügungsindustrie eine vorhandene Tradition und funktioniert sie in ihrem Sinne durch konsequente Modernisierung um[5]. Schwerpunkt der einst polyfunktionalen Ereignisse wird Freizeit und Vergnügen. In den neuen Ballungsräumen und Großstädten Europas entstehen temporäre und permanente „Volksfeste“, deren Attraktionen ebenso wie die Organisationsstrukturen sich über die Grenzen hinweg ähneln. Publikumsmagnet dieser „Events“ ist das Karussell des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das als Produkt eines engen Geflechtes von Kontakten auf lokaler wie auch internationaler Ebene ein Zeugnis der Globalisierung darstellt, die bereits zu dieser Zeit von den Industrieländern eingeleitet wird[6].
Das Karussell: Produkt einer langen Geschichte von Kultur- und Techniktransfers
Das Karussell ist in seiner Frühform im 17. Jahrhundert ein Trainingsgerät für Adelige, die sich auf die Schaukämpfe vorbereiten, die bei Festen die gefährlichen Tourniere ersetzt haben. Die Fürstenhöfe Europas übernehmen von Frankreich das „Carrousel“, eine Abfolge von Umzügen und sportlichen Wettkämpfen, zu denen das „Jeu de bague“, das Ringstechen, gehört, bei dem der Reiter mit seiner Lanze einen Ring erobert. Bereits Ende des 17. Jahrhunderts ist das Karussell, das sich gegen den Uhrzeigersinn dreht, damit der Reiter seine rechte Hand benutzen kann, in den Gärten der Fürsten und auf Jahrmärkten mit Holzpferden und Sitzen für die Damen nachzuweisen. Angetrieben wird es durch Muskelkraft noch bis ins 20. Jahrhundert hinein. Diese Form von Unterhaltung, deren technische Gegebenheiten neben dem Geschicklichkeitsspiel des Ringstechens einen physischen Ausnahmezustand, ein Schwindelgefühl durch die Drehgeschwindigkeit, ermöglichen, lädt gleichzeitig mit Hilfe der optischen Gestaltung zu einer imaginären Reise ein.
Ende des 19. Jahrhunderts entstehen in den Industrieländern in modernen Fabriken Karussells, die dank der neuesten Technik einem Massenpublikum verschiedenste Erlebnisse ermöglichen. Dampfmaschinen sorgen nun dafür, dass sich die kreisförmige Konstruktion mit mehr als hundert Personen in rasender Geschwindigkeit dreht und gleichzeitig weitere Mechanismen zusätzliche vertikale und horizontale Bewegungen in Gang setzen. Die imaginäre Reise erlaubt es dem Besucher, sich als Ritter des Mittelalters, als Barockfürst oder als Kolonialherr zu fühlen. Modernste Transportmittel, die in der Realität nur wenigen Reichen vorbehalten sind, werden ihm kurze Zeit nach ihrem öffentlichen Bekanntwerden für wenig Geld zur Verfügung gestellt. Der Einsatz von elektrischer Beleuchtung, einem Luxusartikel, den sich zunächst nur die vornehme Geschäftswelt leisten kann, und die laute Musik der Orgel, die mit Märschen, Opernmelodien und Schlagern die Konkurrenzunternehmen übertönt, machen das Karussell für den Volksfestbesucher zum Schauspiel, das er gratis genießen kann, bevor er sich zu einer Fahrt verführen lässt. Häufig ist ein solche Attraktion ein Konglomerat internationaler Einzelelemente. Karusselltechnik aus England, Karussellfiguren und andere Besatzungsteile aus Thüringen oder Belgien, Karussellorgeln aus dem Schwarzwald oder Paris sind auf Jahrmärkten in der ganzen Welt um 1900 keine Seltenheit.
Die Essener Kirmes 1884: modernste Vergnügungsangebote dank Import von Ideen, Personal und Technologie
Auf der Essener Kirmes bieten im Jahre 1884 zwei moderne Großgeschäfte[7] dem vergnügungshungrigen Publikum Zerstreuung und Möglichkeiten, sich Welten jenseits der alltäglichen Realität zu erschließen. Das Varietétheater von Robert Melich aus Düsseldorf gastierte schon im Vorjahr auf dem Kopstadtplatz. Wie in den Metropolen, Berlin, London oder Berlin, fasst diese neue Form des Freizeitvergnügens mehrere beliebte Angebote zusammen. Theater, Tanz, Musik, sportliche und akrobatische Darbietungen von Künstlern aus aller Welt, Schaustellungen von seltenen oder fremden Lebewesen, aber auch Vorführungen neuester technische Wunderwerke aus dem Bereich internationaler wissenschaftlicher Forschungen, die z.B. Optik und Akustik betreffen und zehn Jahre später die ersten Filmvorführungen möglich machen, sorgen dafür, dass das Unternehmen jedes Jahr mit neuen Sensationen aufwarten kann, da nur so der Erfolg garantiert ist.
Der absolute Publikumsmagnet im Jahre 1884 in Essen ist das Dampfschiffskarussell von der Firma Stuhr aus Hamburg. Staunend stehen Alt und Jung vor dem Karussell, das von einer stampfenden und rauchenden Dampfmaschine angetrieben wird. Bis zu je 12 Personen können in 6 Schiffen Platz nehmen und sich wie auf Wellen schaukelnd im Kreis drehen lassen[8]. Für ein paar Pfennige kann man am eigenen Leib erfahren, wie sich eine rasante Ozeanüberquerung anfühlt, in deren Genuss nur Geschäftsreisende und reiche Weltenbummler der Luxusklasse kommen, oder Auswanderer, für die die Fahrt eher ein für Leib und Leben gefährliches Abenteuer darstellt.
Als Erfinder dieser Neuheit gilt Frederick Savage aus King’s Lynn, der 1880 in England ein Patent anmeldet und bis 1885 etwa 20 Karussells dieser Art in die ganze Welt verkauft. Die Werbung übernimmt u.a. sein Schwiegersohn, der 1884 in der Nähe von Frankfurt Interessierten die Neuheit vorführt[9]. Stuhr baut bereits seit 1881 die „See auf dem Lande“ nach „einem englischen Patent“[10] nach und stellt diese Neuheit zunächst auf dem Bremer Freimarkt vor[11]. 1889 ist die Firma weit über die Grenzen hinaus bekannt. Nicht nur im Wiener Prater wagt man sich an die neue Technik mit Hilfe der norddeutschen Spezialisten, sondern auch in Chicago überwacht ein Angestellter der Firma den Aufbau von zwei Dampfkarussells, die per Schiff und Bahn ihren Bestimmungsort erreichen.
Die Essener Karussellbaufirma Siebold: Erfolg durch Vernetzung der Hersteller und Organisatoren der Vergnügungsindustrie
In Essen interessiert sich 1884 besonders der Kaufmann Franz Siebold für den neuen Publikumsmagneten. Offensichtlich hat der ehemalige Fischhändler ein Gespür für Erfolg versprechende Geschäfte, denn er präsentiert zur nächsten Essener Kirmes einen Nachbau des Karussells. Doch technische Mängel und unzureichend durchdachte Schwierigkeiten beim Auf- und Abbau lassen den rührigen Unternehmer den Entschluss fassen, sich nach England zu begeben, um bei dem erfahrenen Unternehmer Savage ein Karussell, „Über Berg und Tal“, zu kaufen, das sich bereits 1885 erstmalig in Dortmund drehen wird.
Die stattliche Investition lohnt sich; denn bereits 1888 kaufen er und sein Partner Hotto die auf Karussellbau spezialisierte Maschinenfabrik Hövermann und Jürgens in Altona und verlegen den Betrieb nach Essen, wo sie in der Schlenhofstrasse die Karussellfabrik Siebold & Hotto eröffnen, die Arbeitsplätze für Schlosser, Schmiede, Zimmerleute, Anstreicher und Kunstmaler aus Düsseldorf bietet. Franz Siebold erwirbt 1892 von Savage,mit dem er intensive Geschäftskontakte unterhält, das Spezialpatent für die Berg- und Talbahn für Deutschland und leitet das Unternehmen nun allein. In Essen gilt er als bedeutender Geschäftsmann, so dass es nicht verwundert, dass er als einziger Karussellbetreiber von der Stadtverwaltung die Genehmigung für den Aufbau eines Karussells auf dem damaligen Zirkusplatz erhält, obwohl die Kirmes wegen Choleragefahr im Herbst 1892 abgesagt wird[12]. Bis 1914 veröffentlicht Siebold Werbeanzeigen im „Komet“, der Fachzeitschrift für Schausteller[13].
Franz Siebold ist auch einer der ersten, der den Essener Bürgern den Zauber des elektrischen Lichtes öffentlich zugänglich macht. Nachdem in Mailand, London, Paris und Berlin zwischen 1882 und 1885 die ersten Theater, Banken, Einkaufszentren und Hotels ihre Kunden mit diesem neuen Luxus verwöhnen, ziehen weitere Unternehmer zwischen 1887 und 1901 in vielen deutschen Großstädten nach und lassen Elektrizitätswerke erbauen. In Essen verfügen in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts öffentliche und private Theater über diesen Luxus, den Franz Siebold in Form von modernsten Bogenlampen an seinen verschiedenen Geschäften allen Besuchern der Kirmes vorstellt, nicht nur denen, die sich den Eintritt für die Vorstellungen der Essener Theater leisten können. Gleichzeitig wird die Maschinerie, mit der der Strom erzeugt wird, die Dampfmaschine, die Siebold bei Savage kauft, zum technischen Schauobjekt und Werbemittel[14].
Franz Siebold schickt zeitweise bis zu acht Jahrmarktsattraktionen auf Fahrt, von denen einige in Nizza, Mailand und Rom bis zu drei Wochen gastieren[15]. 1903 reist sein Kinematograph „Palais Electrique“ mit Dampflokomobil zur Stromerzeugung von Ort zu Ort. 300 Personen können in diesem Wanderkino die neuesten Streifen sehen, die Siebold vor allem in Berlin einkauft[16], bevor die französische Firma Pathé nach 1907 eine Verleihfirma gründet, die europaweit agiert. Neben Pathé sind es vor allem die französische Firma Gaumont und die Amerikaner Edison und Eastman Kodak, die diesen Markt weltweit beherrschen und schließlich von der Herstellung bis zur Projektion in eigens gebauten Sälen dieses neue Freizeitvergnügen durchorganisieren und das Wanderkino verdrängen. Aber auch in diesen neuen Markt investiert Franz Siebold umgehend, als er 1910 in Essen am Viehofer Platz ein Kinotheater[17] mit 350 Plätzen, Klimaanlage und elektrischem Vorhang im Stil der eleganten Pariser Kinos mit Balkonlogen und gepolsterten Sesseln einrichtet[18].
Franz Siebolds Sohn, der zu Beginn der achtziger Jahre geborene Friedrich Wilhelm Siebold, studiert in Darmstadt und Heidelberg. Um die für das internationale Karussellgeschäft notwendigen Sprachkenntnisse zu erwerben, schickt der Vater den jungen Ingenieur nach London, Paris und Amerika, wo dieser gleichzeitig neue Ideen sammelt und Geschäftskontakte knüpft[19]. Zurück in Europa macht der junge Siebold sich einen Namen mit einer „ausländischen Erfindung“, einem Zirkus-Kinematographen, d.h. einem Zelt für 2000 Personen, das er 1905 in Essen aufbaut[20]. Ab 1910 lässt er sich in Bremen nieder, wo er eine Schaustellerin heiratet[21] und schließlich eine eigene Firma gründet, die 1939 bereits 100 Angestellte hat und über Agenturen in USA, Großbritannien, Frankreich, Italien, Schweden und Norwegen vertreten ist. Siebold bringt immer wieder neue Ideen aus dem Ausland mit, wie z.B. das Belustigungsgeschäft „The Whip“, das er bei einem Unternehmer in Coney Island kennen lernt und für dessen Nachbau er die Patente erwirbt. Seine eigenen Erfindungen lässt er patentieren, um sich gegen die Konkurrenz zu schützen. Er präsentiert sie im Ausland auf Weltausstellungen und in großen Vergnügungsparks. 1944 stirbt er im Alter von 63 Jahren in Wiesbaden.[22].
Werbung, Vertrieb und Berufsverbände: Moderne Vernetzungsstrategien auf der Basis von technischem und organisatorischem Fortschritt
Die Kombination von Schaustellerunternehmer und Karussellfabrikant, die die Familie Siebold praktiziert, ist eine durchaus übliche Geschäftsform. Die Jahrmarktsattraktion fungiert gleichzeitig als Einnahmequelle und als Werbemittel für den Produktionsbereich. Der berühmteste und innovativste deutsche Unternehmer dieses Bereichs der Vergnügungsindustrie, der „Karussellkönig“ Hugo Haase[23], arbeitet ebenso. In engem Kontakt zu deutschen und ausländischen Schaustellern und Fabrikanten erfindet und produziert er in seinen Fabriken seine Fahrgeschäfte, die er dann auf Jahrmärkten und in Vergnügungsparks der ganzen Welt aufstellt.
Sicher haben sich seine und Siebolds Wege gekreuzt, da der gelernten Schlosser, der 1857 in der Nähe von Hamburg geboren wurde, lange Zeit als Firmenleiter der Maschinenfabrik Hövermann & Jürgens in Altona arbeitet, bevor er 1887, ein Jahr vor der Übernahme des Betriebes durch Siebold, seine eigene Fabrik in Roßla am Harz eröffnet. Dorthin führt ihn die Ehe mit einer Schaustellertochter, die er auf einer Reise kennengelernt, auf der er ein Dampfkarussell zur technischen Überwachung begleitet. Später verlegt er den Firmensitz nach Leipzig und dann nach Hannover, traditionsreiche Messeorte, von denen aus internationale Kontakte leichter zu knüpfen sind. Mit der Präsenz seiner Fahrgeschäfte auf den bedeutendsten Jahrmärkten Deutschlands, in der Schweiz, in Österreich und in Italien und auf internationalen Ausstellungen, u.a. 1920 in Rio de Janeiro, 1929 in Mailand, 1931 in Paris und 1933 in Lissabon, verschafft er sich weltweite Geschäftskontakte, die ihm sowohl für die Produktentwicklung als auch den Vertrieb nützlich sind.
Den Höhepunkt der Firmengeschichte Haases stellt der Auftrag für den Vergnügungspark der Weltausstellung in Antwerpen 1930 dar. Seit der Weltausstellung 1867 in Paris hat man erkannt, dass der Erfolg industrieller oder politischer Großveranstaltungen von deren Unterhaltungscharakter abhängt. Haase tritt als gefragter Spezialist für die Organisation von Vergnügungsparks erstmalig anlässlich des 1912 in Frankfurt stattfindenden Deutschen Bundesschießens auf. Ein Jahr später ist er bereits auf internationaler Ebene gefragt als er den Auftrag für die Konzeption des Vergnügungsparks der Internationalen Schiffahrts-Ausstellung in Amsterdam erhält. Als der erfolgreiche Unternehmer 1933 in Hannover stirbt, erweisen ihm deutsche und englische Schaustellerverbände die letzte Ehre.
Die Kunden der Hersteller der neuen Karussellgeneration, die Schausteller,die sich als Großunternehmer der Freizeitindustrie in Frankreich als „Industrielle“ bezeichnen, schließen sich in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in ganz Europa zu Verbänden auf regionaler und nationaler Ebene zusammen und kooperieren international. Die Kommunikation nutzt moderne Medien der Vernetzungstechnologie. Neben Telegrafen und Telefon sind es vor allem Firmenkataloge, die „Gelben Seiten“ und Fachzeitungen, die durch Innovationen in Druckerei- und Reproduktionstechnik als preiswerte Werbe- und Informationsträger zum Einsatz kommen. So inseriert zum Beispiel der Gothaer Karussellfabrikant Fritz Bothmann (1858 – 1928), der 1883 sein erstes Schiffskarussell baut, später zusätzlich Waggons und Maschinen für Straßen- und Eisenbahn in seiner Maschinenfabrik produziert[24] und zum „Kommerzienrat“ avanciert, nicht nur wie Siebold und Haase im Komet, der seit 1883 als „Fachblatt für Reisegewerbe und Markthandel“ in Pirmasens herausgegeben wird, sondern seine Anzeigen erscheinen seit 1887 im Voyageur Forain, dem „Organ“ der 1883 gegründeten französischen Schaustellergewerkschaft. 1888 entdecken weitere deutsche Karussellfabrikanten dieses Werbemittel. Darunter ist z.B. Friedrich Heyn aus Neustadt in Thüringen, dessen Produkte seit 1887 über einen Agenten, der im Bottin, dem Pariser Firmenverzeichnis, aufgeführt ist, erworben werden können. Fritz Bothman erscheint 1889 mit beweglichen Karussellpferden zur Weltausstellung in Paris und meldet bei der zuständigen französischen Behörde ein Patent für den Schaukelmechanismus der Pferde an, um sein Exportgeschäft abzusichern, das mit Kunden in Europa, Nord- und Südamerika, Afrika und Australien einen wichtigen Teil des Firmenumsatzes ausmacht.
Die Vernetzungsstrategien der Hersteller und Schausteller, die sich in Verbänden organisieren, moderne Werbe-, Kommunikations- und Transportmittel nutzen, um Kontakte zu knüpfen und Waren zu vertreiben und zu erwerben, werden durch eine relativ liberale Wirtschaftspolitik der Industrienationen unterstützt, die sich seit 1883 um eine Internationalisierung des Patentrechts bemühen[25] und Export und Import aktiv zur Vermehrung des nationalen Wohlstandes unterstützen, z.B. durch Gesetzgebung, Standardisierung im technischen Bereich, Stabilisierung der Wechselkurse, Subventionen im Transportwesen und militärische Unterstützung bei der Eroberung und Sicherung neuer Märkte[26].
Firmengründungen im Ausland: Vernetzung durch Internationalisierung von Industrie und Wirtschaft
Von dieser liberalen Politik profitiert zum Beispiel die Pariser Orgelbaufirma Limonaire Frères, die eine weitere Form von Vernetzung praktiziert, indem sie ein Zweigwerk im Ausland gründet, um direkt vor Ort den Markt zu erobern, und gleichzeitig die ortsansässige Konkurrenz zwingt, sich mit ausländischer Technologie auseinanderzusetzen[27].
1886 gründen Eugène und Camille Limonaire die Firma Limonaire Frères & Cie, die Klaviere und mechanische Orgeln in ihren modernen Fabrikräumen produziert. Ihr Vater, der in Paris ansässige Klavierbauer Antoine Limonaire hatte bereits um 1880 begonnen, systematisch einen neuen Kundenkreis zu erobern, den sein Konkurrent Gavioli bereits einige Jahre vorher entdeckt hatte: die Organisatoren von öffentlichem Vergnügen. So bot er neben Klavieren und tragbaren Zylinderorgeln im Bottin „Orchesterorgeln für Bälle und Jahrmärkte“ an und wandte sich gezielt an Schausteller. Seine Söhne reagieren ebenfalls flexibel auf Veränderungen von Angebot und Nachfrage. Als der Bedarf an Karussells in Frankreich in den 90er Jahren nicht mehr ausschließlich durch Handwerksbetriebe, ausländische Importe und vor allem den Fabrikanten Gustave Bayol, der seit 1887 in Angers Karussells baut, gedeckt werden kann. steigt die Pariser Orgelbaufirma in das Geschäft etwa 1894 ein, indem sie Fachbetriebe aufkauft oder als deren Teilhaber fungiert, Zulieferfirmen beauftragt, aber auch das neue technische Wissen in den eigenen Fabrikhallen umsetzt.
Schwerpunkt bleiben allerdings die Orgeln und Orchestrien, die ab 1888 auf den Weltausstellungen vorgestellt und prämiert werden, bis die Firmeninhaber schließlich 1910 in Brüssel selbst der Jury angehören. Vorausschauend sorgen sie dafür, dass sie an den Ausstellungsorten rechtzeitig durch Agenturen vertreten sind.
Ihr größter Konkurrent im Orgelbau ist in Paris die Firma Gavioli, deren Gründer einst aus Italien zuwanderten. An sie wendet sich 1896 Richard Bruder aus Waldkirch im Breisgau, der nach einem Streit mit seinen Cousins die erfolgreichste deutsche Orgelbaufirma verlassen muss. Unter seiner Leitung repariert und produziert Gavioli in einem angemieteten Saal Orgeln mit der neuesten Technik. Für Kartonorgeln liegen in Frankreich bereits seit 1894 Patente von Gavioli vor, gefolgt 1895 von Limonaire Frères. Die Waldkircher Orgelbauer lernen das neue System jetzt vor Ort kennen. Auf die Werbeanzeigen des französischen Konkurrenten im Komet reagiert die Firma Gebrüder Bruder 1897 mit einer Anzeige im französischen Schaustellerfachblatt Industriel Forain. Allerdings scheint der Erfolg aus zubleiben, da diese Werbekampagne nach wenigen Wochen abgebrochen wird. Dagegen ist der Umsatz der Firma Gavioli in Deutschland so vielversprechend, dass Limonaire Frères 1902 ebenfalls im Komet inseriert, allerdings auch nur einmalig. Schließlich werben allein in diesem Jahr neben einem russischen, einem belgischen und einem amerikanischen Orgelbauer einundzwanzig deutsche Fachbetriebe, darunter bekannte Namen wie Bruder, Ruth und Imhof & Mukle aus dem Schwarzwald, Lenk aus Berlin, Richter aus Düsseldorf oder Wellershaus aus Saarn an der Ruhr, für ihre Produkte.
Als im Dezember 1907 der Vertrag zwischen Gavioli und Richard Bruder ausläuft und nicht verlängert wird, zeichnen sich in der Pariser Stammfirma bereits Schwierigkeiten ab, die 1912 in deren Schließung gipfeln. Limonaire Frères übernimmt das, was von der einst innovativsten und renommiertesten französischen Orgelbaufirma noch übrig ist.
Ein weiterer Grund für den Abbruch der Geschäftsbeziehungen zu Richard Bruder könnte der Wunsch gewesen sein, das Exportgeschäft in Belgien zu konzentrieren und das Deutschlandgeschäft in die Hände eines Mitarbeiters zu legen, der in der eigenen Firma ausgebildet wurde. Carl Frei nimmt 1908 seinen Dienst auf in der Firma Mortier in Antwerpen, die im Auftrag der Firma Gavioli für Amerika bestimmte Orgeln produziert. Seine Ausbildung zum Orgelbauer begann er 17jährig zunächst in der Gavioli-Vertretung in Waldkirch, um ein Jahr später, 1902, in das Hauptwerk nach Paris überzuwechseln, wo er mit seiner Schwarzwälder Tracht auf der Straße für Furore sorgte. Wegen seiner Sprach- und Fachkenntnisse schien er der geeignete Mann für Auslandseinsätze zu sein. Man schickte ihn nach Deutschland, Italien, Holland, Belgien und in die Schweiz, um Reparaturen durchzuführen. 1907, als der Vorstand der Firma Gavioli über die Filiale in Waldkirch entschied, leistete er gerade seinen Militärdienst in Freiburg ab, wohnte aber nicht in der Kaserne, sondern in einem von Gavioli angemieteten Hotelzimmer, um in seiner Freizeit eine Orgel zu entwerfen. Nach seiner Entlassung arbeitet er als Orgelbauer bei Mortier, macht sich 1910 aber selbständig als sich deutlich abzeichnet, dass die Zeit der Blüte der Firma Gavioli sich dem Ende neigt. Der Krieg zwingt Frei, nach Waldkirch zurückzukehren, wo er bei Alfred Bruder Arbeit findet, bevor er sich erneut im Ausland niederlässt, im niederländischen Breda. Seine berufliche Karriere beendet der begabte Orgelbauer, bedingt durch den zweiten Weltkrieg, in Waldkirch.
Auf der Suche nach einem stabileren Investor wendet sich der Direktor der deutschen Filiale Richard Bruder 1907 an den Konkurrenten der Firma Gavioli, Limonaire Frères, der bereits am 1. Januar 1908 ins Handelsregister von Waldkirch eingetragen wird. 1912 erbaut die Firma Limonaire Frères auf dem Grundstück, auf dem Richard Bruders Wohnhaus steht, ein Fabrikgebäude. Aber die Bilanzen des Unternehmens sind bereits defizitär, so dass Alfred Bruder, der Sohn und Nachfolger des verstorbenen Richard Bruder, einen Teil der Belegschaft entlassen muss. Der Erste Weltkrieg beendet abrupt die deutsch-französische Kooperation. Enteignung, Zwangsversteigerung und Rückgabe ziehen sich von 1916 bis 1921 hin. 1924 wird Limonaire Frères aus dem Handelsregister gelöscht. 1926 unterzeichnet ein Mitglied der Familie Limonaire den Kaufvertrag der Waldkircher Fabrik, in der der neue Besitzer Alfred Bruder noch bis 1937 Orgeln baut.
Historische Karussells heute: Vernetzungsspuren materieller und imaginärer Art auf der Reise durch Raum und Zeit
Die Nachfolgefirmen von Limonaire Frères kaufen bis 1932 alle einst international berühmten Pariser Orgelbaufirmen auf, ein Beleg für die enge interne Vernetzung eines Produktionszweiges. Die Weltwirtschaftskrise und der Fortschritt auf den Jahrmärkten, in den Kinos und den Haushalten machen die Orgeln und die Karussells der Firma Limonaire überflüssig. Rasantere Fahrgeschäfte, neue Unterhaltungsangebote und modernere Technologien zur Reproduktion von Ton und Musik kommen auf den sich immer schneller wandelnen Markt.
Obwohl nach dem Abriss des Stammhauses der Firma Limonaire Frères im Jahre 1936 keine materielle Spur von deren Bedeutung vor Ort erhalten ist, hat sich der Name als Begriff für Kirmesorgeln im französischen Sprachschatz etabliert. Dank der internationalen Vernetzung um 1900 haben sich Karussells, Karussellfiguren und Orgeln an vielen Orten der Welt erhalten und werden heute in Sammlungen und Museen, deren Akteure zum großen Teil miteinander in Kontakt stehen, sich also um Vernetzung bemühen, gepflegt und vor Verfall und Vergessen bewahrt als Zeugnisse einer vergangenen Kultur, die das Leben unserer Vorfahren bereicherte.
Hin und wieder erlauben uns die Besitzer dieser alten Karussells, auf eine imaginäre Reise ins Jahr 1900 zu gehen, wenn sie uns anlässlich eines historischen Jahrmarktes zu einer Fahrt einladen, die uns die Träume unserer Urgroßeltern nacherleben lässt. Unsere Träume von der „guten alten Zeit“ führen uns in deren Träume von anderen Zeiten und anderen Orten. Das Karussell wird dann zum Instrument einer zeitlichen und räumlichen Vernetzung metaphysischer Art.
© Andrea Stadler
Quellen | [1] Szabo, Sacha-Roger, Rausch und Rummel, Bielefeld 2006, S. 10. |