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1986 Die Geisterbahn hat keine 1. Klasse

1986 12 00 Geisterbahn hat keine 1. Klasse HÖR ZU

Die Geisterbahn hat keine 1. Klasse

Das große Volksvergnügen, die Kirmeszeit ist da.
Die Riesenräder werden von Jahr zu Jahr riesiger und die Achterbahnen immer schneller Immer auf Achse:

Schausteller Rosenzweig vor seinem alten Wohnwagen.
Der Glanz des Schaustellers Theodor Rosenzweig ist messbar: gut 3000 Glühbirnen zu je 15 Watt an einem 92 Jahre alten Kinderkarussell.
Wenn er sie ausknipst allabendlich kurz nach 22 Uhr, wenn die Märchenillusion erlischt, der Budenzauber verblasst, zieht sich der 67jährige hinter einer bunt bemalten Sichtblende in eine andere Welt zurück. Er betritt mit Ehefrau Käthe das rollende Zuhause, einen betagten Wohnwa-gen, zehn Quadratmeter auf vier Rädern.

Gutbürgerliche Gemütlichkeit empfängt das fahrende Paar: Sofa und Klapptisch, Fernseher und Kühlschrank, Kochnische und Etagenbett. Glitter, Tand und Talmi-Pracht bleiben draußen vor der Tür. „Es ist“, sagt Theodor Rosenzweig, „zwar eng hier, aber dafür recht behaglich. Man muss nur Ordnung halten und sich gut verstehen.“
Käthe und Theodor verstehen sich seit 38 Jahren.

1947 hatten sie sich kennengelernt, auf einer Kirmes natürlich. Die Fahrgeschäfte ihrer Eltern standen zufällig nebeneinander. „Es war die Zeit, als die Leute für ein paar Fahrten mit einem Stück Brot zahlten oder einem Ei“, erinnert sich Schausteller Rosenzweig. Noch im selben Jahr machte er sich mit seiner Käthe und einer Schiffschaukel des Vaters selbständig.

32 verschiedene Rummelplatzgeschäfte hat das Ehepaar seitdem betrieben, Achter- und
Geisterbahnen, Zeppeline und Helikopter. Käthe und Theodor haben die gigantische Aufrüstung auf den Volksfesten miterlebt, als die Riesenräder immer riesiger wurden und die Achterbahnen immer schneller durch einen, zwei, schließlich drei Loopings rasten. Anlagen, die fünf Millionen Mark Anschaffungskosten verschlangen und 30 Güterbahnwaggons für den Transport benötigen.

„Die Elektronik frisst die Romantik, klagen Berufspessimisten seit Jahren.
„Alles Quatsch“, widerspricht Theodor Rosenzweig,
„moderne Technik und Nostalgie kämpfen nicht gegeneinander, sondern sie ergänzen sich. Die Kirmes ist ein Spiegelbild der Sehnsüchte der Menschen. Hier gibt es die kleinen Sensationen, hier ist das Verbotene erlaubt, geheime Wünsche werden Wirklichkeit, und das Unmögliche ist scheinbar möglich.“

Kinder können, was sonst nur Erwachsene dürfen: Auto fahren und Flugzeug fliegen. Jugendliche bestehen ihre Mutprobe in der Loopingbahn – mit der Gewissheit, sie unbeschadet zu überstehen. Und Erwachsene fühlen sich zwischen Zuckerwatte und Liebesäpfeln, zwischen Drehorgeln und Schaubuden wieder als Kinder, wenn jetzt von Hamburg bis München überall in Deutschland die Kirmesfeste und gleich darauf die Christkindlmärkte ihre verheißungsvollen Pforten öffnen.

„Der Jahrmarkt ist ein Fest der Jugend, das Alter spielt dabei keine Rolle“, hat der große alte Schausteller Josef Schippers einmal erklärt. Theodor Rosenzweig ergänzt:
„Außerdem ist auf der Kirmes jeder gleich. Da gibt es keine Standesunterschiede.“
Die Geisterbahn hat keine erste Klasse, und an der Frittenbude gibt es für alle die gleichen Pappteller und Plastikgabeln.
Die Bundesbürger auf dem Rummelplatz, ein einziges Volk von Würstchenbeißern.

Theodor Rosenzweig ist Schausteller in der fünften Generation:
„Mein Ururgroßvater ist von Gasthaus zu Gasthaus gewandert und hat sich mit Zauberkunststücken den Lebensunterhalt verdient.“

Eigentlich müsste der 67 jährige nicht mehr über die Jahrmärkte ziehen. Seine Frau und er haben lange genug geschuftet.
Ihre beiden Kinder haben in andere Schaustellerfamilien eingeheiratet und betreiben ein Riesenrad und eine Geisterbahn.
Die Enkel wollen denselben Beruf ergreifen.
Eigentlich sollte Theodor Rosenzweig auch gar nicht mehr auf Achse sein. Im letzten Jahr wurde er fünfmal operiert. Der Schausteller, der an Diabetes und Durchblutungsstörungen leidet:
Wir treten jetzt halt ein wenig kürzer. Die anderen Fahrgeschäfte habe ich verkauft.
Aber an diesem Karussell hängt mein Herz“

Schließlich hat er das hölzerne Kunstwerk aus dem vergangenen Jahrhundert für 200 000 Mark liebevoll restaurieren lassen.
Nun tun die Pferdchen, frisch lackiert, wieder ihren Dienst, bis es nach Weihnachten zurück ins Winterquartier bei Köln geht.
„Im März aber, wenn die Tage länger werden und die Sonnenstrahlen wärmer“,
bekennt Theodor Rosenzweig, und seine Frau nickt dazu, „bekommen wir jedes Jahr wieder Heimweh.“
Heimweh nach der Reise und dem Rummel.

Interview mit Familie Rosenzweig auf Weihnachtsmarkt in Essen im Dezember 1986
© Wolfgang Schneider  HÖR ZU Nr.140 1986

 Abschrift vom originalen Zeitungsartikel © Margit Ramus

 

 

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