Walter Schallies beschreibt 1968 im Kölner Stadt Anzeiger das Kulturgut Volksfest als „Spiegel der Gesellschaft“. Er gibt eine authentische Definition des Schaustellergewerbes und erkannte schon damals, dass die Schausteller die Ideen zu Innovationen geliefert haben und trotzdem die Tradition pflegten. Sie, die Schausteller hätten gemeinsam mit den bewährten Herstellern die Entwicklung der Fahrgeschäfte und anderen Volksbelustigungen vorangetrieben und auch das psychologische Vergnügen einer Fahrt auf der Achterbahn oder Geisterbahn berücksichtigt.
Außerdem thematisiert Schallies kurz die Existenzkämpfe der Branche. Er streift die Wohnsituation der Schausteller.
Letztendlich recherchierte er auch die wirtschaftlichen Durchführbarkeitsstudien der Banken, die „ihre Zurückhaltung bei der Finanzierung von Schausteller-Unternehmen aufgegeben“ haben. und deren Erkenntnis, dass aus „dem fahrenden Volk reisende Geschäftsleute mit reellem Geschäftsgebaren und gut bürgerlichem Hintergrund geworden“ sind, und „denen gerne Kredite eingeräumt werden.“ Kommentar der Verfasserin © Margit Ramus
Artikel von Walter Schallies im Kölner Stadt-Anzeiger vom 21.09.1968
Technische Illusionen zum Klang des Orchestrions von
„Am Anfang war das Pferdekarussell. Es wollte die Pferderennen imitieren, die im 19. Jahrhundert und wohl auch schon früher bei allen Volksfesten stattfanden. Das „gemeine“ Volk, das sich damals nur am Rande der Arena belustigen durfte, konnte sich wenigstens auf den Karussells in den Sattel schwingen und für einige Runden als „edle“ Reitersleute fühlen auch wenn das Ross mir aus Holz war. Noch mehr als heute das Auto, war früher das Reitpferd ein Statussymbol.
Mit dem Kettenkarussell ersannen die Schausteller die nächste Illusion. Von dem wohl ältesten Wunschtraum der Menschheit sollte es einen Zipfel erfüllen: durch die Luft zu fliegen wie ein Vogel. Von den beiden weiteren, ältesten Attraktionen der Rummelplätze und Jahrmärkte wird auch die Schiffsschaukel — einst das atemberauschende Vergnügen unserer Groß- und Urgroßeltern; also sie noch jung waren — immer weniger gefragt.
Nur das Riesenrad hat seine Anziehungskraft nicht verloren. Es gehört zum Cannstatter Wasen, zum Münchner Oktoberfest, zum Bremer Freimarkt und zum Hamburger Dom.
Neun oder zehn große Riesenräder gibt es heute in der Bundesrepublik. „Damit ist auf diesem Sektor der Markt gesättigt“, sagt der Inhaber der Firma Anton Schwarzkopf in Münsterhausen bei Krumbach/Schwaben. Dieses bayerische Unternehmen und die Heinrich Mack KG in Waldkirch/Schwarzwald sind die größten deutschen Hersteller von Fahrgeschäften.
Anton Schwarzkopf hat kürzlich ein Riesenrad mit 30 Meter Durchmesser und 24 Gondeln, in denen 144 Personen Platz haben, geliefert. Die 150 Tonnen schwere Vergnügungsmaschine lässt sich durch eine Hydraulik schnell aufbauen. Auch bei den Schaustellern ist Zeit Geld.
Die geschichtliche und technische Entwicklung der Fahrgeschäfte spiegelt sich besonders gut in der seit 1971 bestehenden Firma Mack wider. Der Gründer, Wagnermeister wie der heutige Leiter des Familienunternehmens, baute Ackerwagen für die Schwarzwaldbauern, Postkutschen und Pferde-Landauer „Chaisen“ genannt. 1890 stieg der Großvater in das Volksfestgeschäft ein.
Größte Konzertorgel der Welt
Er setzte die in Waldkirch gefertigten Drehorgeln und Orchestrions auf Räder und brachte so die mechanische Musik auf Mess- und Rummelplätze. Die Leierkästen sind längst von dem Schlager brüllenden Lautsprechern zum Schweigen gebracht worden, aber das Orchestrion – zwar zeitweise auch verstummt – hat sich mit Romantik und Lautstärke zur Wehr gesetzt. Vor wenigen Wochen holte sich ein Münchener Schausteller in Waldkirch ein neues, zehn Meter langes Orchestrion ab.
„Die größte reisende Konzertorgel der Welt“, ließ er auf die Fassade schreiben. Die beweglichen Figuren, den Kapellmeister, die tanzenden Rokoko-Kavaliere und ihre Damen, schnitzte ein Bildhauer aus dem Schwarzwald. Etwa 80 000 Mark zahlte der Münchner für die musikalische Attraktion.
„In dem ständigen Kampf der Schausteller um einen Platz auf großen Volksfesten siegt heute der, der sein Fahrgeschäft mit einem Orchestrion ausgestattet hat“, will Franz Mack wissen. Dass die Platzverwalter wenigstens auf akustischem Gebiet die Romantik wieder zurückholen möchten, hat sich inzwischen herumgesprochen.
Ein anderer Schausteller lässt gerade bei Mack sein altes Orchestrion, das jahrelang im Schuppen lagerte, aufarbeiten und wieder zum Tönen bringen. Seine Lautsprecheranlage will er verkaufen.
Durch den Bau von Zirkuswagen für Sarrasani, Krone und Busch und von Wohnwagen für Schausteller kam Mack immer mehr mit dem „fahrenden Volk“ in Verbindung. Die rollenden Behausungen, die heute die Schausteller bei der Firma in Waldkirch bestellen, sind mit allem Komfort ausgestattet. So eine Luxusvilla auf Rädern mit Chippendale- oder Barockmöbeln und gekacheltem Badezimmer kann bis zu 80 000 Mark kosten.
Der Wohnwagen ist das Statussymbol der Schausteller. Die feste Wohnung, in der sie während der Wintermonate leben, ist oftmals sehr viel schlichter.
Zwischen den Schleuderkarussells, den Achter- und den Geisterbahnen drängte sich auf den deutschen Volksfesten ab 1927 ein Fahrgeschäft neuer Art: der Auto-Skooter aus Amerika. 1930 nahm Mack, damals schon im Karusselbau tätig, die Herstellung eigener Skooter-Anlagen auf.
1956 stieg auch die Firma Anton Schwarzkopf, die ebenfalls über den Bau von Wohn- und Zirkuswagen mit den Schaustellern in Verbindung gekommen war, in das auch heute noch aussichtsreiche Geschäft ein. In der Bundesrepublik gibt es augenblicklich rund 200 Auto-Skooter-Unter-nehmen, die alle recht gut verdienen.
Mack und Schwarzkopf fertigen die Fahrbahn und die Aufbauten. Auf den Bau der von Elektromotoren getriebenen Fahrzeuge hat sich die in Bruchsal/Nordbade ansässige Firma Gebrüder Ihle spezialisiert. Der Gründer des Unternehmens hatte 1933 mit der Reparatur von Kraftfahrzeugen und dem Umbau von Dixie- und BMW-Autos zu Sportwagen angefangen. Seine ersten Skooter hatten noch einen lärmenden Zweitakt-Benzinmotor.
Trotz der vielen Rammstöße hält ein Skooter etwa 10 Jahre, aber die Schausteller wechseln durchweg alle drei oder vier Jahre die Fahrzeuge. Sie wollen nicht nur, sondern sie müssen auch, um konkurrenzfähig zu sein, die neuesten Modelle haben. Die Konstrukteure in Bruchsal müssen sich ständig etwas einfallen lassen. Der derzeitige Trend ist: viel Beleuchtung. Ihle, der auch Oldtimer-Autos und Fahrzeuge für Geisterbahnen und ähnliche Fahrgeschäfte herstellt, exportiert rund 40 Prozent seiner Produktion. Japanische, indische und amerikanische Schausteller gehören zu seinen Kunden. Ähnlich liegt das Auslandsgeschäft bei Schwarzkopf und bei Mack. Die Beliebtheit der Auto-Skooter versuchen Psychologen damit zu erklären, dass hier vor allem jungen Männern und Halbwüchsigen die Möglichkeit geboten wird, durch das Rammen anderer Fahrzeuge auf harmlose Art ihren Aggressionstrieb abzureagieren.
Der Rausch des Tempos entspannt
Die Schausteller und die Hersteller von Fahrgeschäften verstehen auf ihrem Gebiet auch schon etwas von Psychologie. Sie lächeln hintergründig, wenn sie berichten, das schnelle Achterbahnen besonders bei weiblichen Volksfestbesuchern beliebt und gefragt sind.
„Sehen Sie sich auf diesen Fotos die Gesichter der Mädchen und Frauen während der Fahrt an — und Sie wissen alles“, sagt Anton Schwarzkopf, der gerade die mit 72 Stundenkilometern schnellste Achterbahn gebaut hat. Bei der wieder in Mode kommenden Geisterbahn — ein ausgesprochenes Pärchen-Fahrgeschäft — wird durch den Gruseleffekt an das natürliche Bedürfnis der Frau appelliert, beim Mann Schutz zu suchen. Ihr Begleiter wird an seine Beschützerrolle erinnert.
Ehe sich die Schausteller oder ihre Frauen an die Kasse setzen können, müssen sie erhebliches Kapital investieren. Ein Rundfahrgeschäft kostet zwischen 200 000 und 300 000 Mark, ein Auto-Skooter zwischen 300 000 und 350 000 Mark. Für eine Achterbahn muss bis zu einer halben Million Mark angelegt werden.
Seit etwa 1960 haben auch die Banken ihre Zurückhaltung bei der Finanzierung von Schausteller-Unternehmen aufgegeben. Auch für die Leiter der Geldinstitute sind aus dem fahrenden Volk reisende Geschäftsleute mit reellem Geschäftsgebaren und gut bürgerlichem Hintergrund geworden, denen gerne Kredite eingeräumt werden. Durchweg zahlen die Schausteller beim Kauf eines neuen Fahrgeschäftes ein Drittel des Preises bar. Sie rechnen mit einer Amortisation des investierten Kapitals in vier Jahren.
Auf den Volksfesten übertönen die Lautsprecher und Orchestrions das Klingeln des Geldes in der Kasse, die Einnahmen der Schausteller sind jedoch recht beachtlich. Es soll unter ihnen Millionäre geben. Denn rund 200 Millionen Menschen besuchen in der Bundesrepublik jährlich die Volksfeste, und im Durchschnitt lässt sich jeder den Spaß fünf Mark kosten. Da bleibt etwas hängen im „Fahrgeschäft“. © Walter Schallies
Abschrift vom originalen Zeitungsartikel © Margit Ramus
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Volkswirtschaftliche Bedeutung der Volksfeste
Quellen | Schallies, Walter: Kölner Stadt-Anzeiger 21.09.1968
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