Schaustellerbranche im Spiegel der Tagespresse A - Z

1988 Der Schlüssel für den Familiensinn

In der ehemaligen DDR führte Gudrun Skulski 1988 ein Gespräch mit dem Schausteller Siegfried Jacobi.

Der Schlüssel für den Familiensinn
Begegnung mit dem Schausteller Unionsfreund Siegfried Jacobi

Das Zauberwort Weihnachtsmarkt ruft Kindheitserinnerungen wach an Lichterglanz in der frühen Dämmerung des Winterabends, an den Duft nach Gebratenem, nach Schokolade und Pfefferkuchen, an Menschengedränge vor Karussells, an die vertrauten Klänge der Weihnachtslieder.
Später bröckelte Stück für Stück vom Putz der flimmernden Fassade ab. Der Blick durchbrach die Leuchtreklamen, fiel auf Wände, durch die der kalte Wind blies, und entdeckte die Gestalten in Wattejacken hinter dem Tisch der Würfelbude, die ihre rotgefrorenen Finger an einem dampfenden Glas Tee wärmten.
Während die Kinder noch mit staunenden Augen von einer Attraktion zur anderen drängten, sehnten sich die Eltern nach der warmen Stube und bedauerten die Schausteller, die seit dem frühen Nachmittag in der feuchten Kälte standen und Husten und Schnupfen riskierten, um Freude zu verbreiten und Weihnachtsstimmung zu schaffen.
Wenn die Wagen wie eine Peitsche in die Kurve geschleudert werden, kreischen die Fahrgäste vor Begeisterung. Das klingt wie Musik in den Ohren Siegfried Jacobis. Er hat das Karussell nach dem Kauf wiederaufgebaut und ihm den Namen „The whip“ gelassen, weil es bei seiner wilden Fahrt so etwas wie einen Peitschenbogen schlägt. Selbst hat er noch nie dringesessen, nicht etwa, weil er seinem eigenen Werk misstraut. Toi, toi, toi – unberufen, solange er Karussells baut und in Betrieb hält, hat es noch. keinen Unfall gegeben.
Jeden Winter werden die Fahrzeuge in der eigenen technischen Werkstatt in Arnstadt überholt und repariert. Alle zwei Jahre müssen sie einer strengen technischen Kontrolle standhalten, die auf Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen achtet. Nein, Angst hat er nicht, aber ihm genügt es, die freudige Erregung in den Augen seiner Gäste zu lesen, ihr Lachen zu hören, ihre Zurufe, das hastige Ein- und Aussteigen zu beobachten und mit einem Knopfdruck das Ringelspiel in Bewegung zu setzen.
Unionsfreund Siegfried Jacobi kann sich keinen schöneren Beruf als den des Schaustellers vorstellen. Sein Herz schlägt nach vierzig Jahren immer noch im Rhythmus des Rummels.
Der Vater begründete die Tradition des Familienbetriebes, als der arbeitslose Wirtschaftskaufmann 1928 einen Broterwerb suchte, sich kurzentschlossen eine Luftschaukel kaufte und damit durchs Thüringer Land von Jahrmarkt zu Jahrmarkt zog.

Heute werden die Fahrgeschäfte der Jacobis auf drei Zugmaschinen verladen. Die drei Generationen, Eltern, Kinder und Enkel, leben in Wohnwagen mit fließend warmem und kaltem Wasser, Radio, Fernsehen, Heizung, Waschmaschine, die während der Saison im Treptower Kulturpark eine richtige Wagenburg bilden.

Ehescheidungen sind selten

Der Schaustellerberuf mit dem Nomadenleben hat ein Stück seiner Romantik verloren, aber dafür moderne Arbeits- und Lebensbedingungen gewonnen. Ein Zuckerlecken ist er auch heute noch nicht. Disziplin, Hilfsbereitschaft, Kraft, technisches und kaufmännisches Können bilden wichtige Voraussetzungen. Ein Schausteller muss in vielen Berufen zu Hause sein. Aber vor allem ist seine Zuverlässigkeit gefragt. In der Familie Jacobi ist inzwischen jeder für ein eigenes Unternehmen zuständig, aber verantwortlich für alles fühlt sich Siegfried Jacobi. In diesem Angewiesen sein aufeinander liegt wohl auch der Schlüssel für das Geheimnis des Familiensinns, der Eintracht, des kameradschaftlichen Umgangstons unter den Schaustellern. Ehescheidungen sind in ihrem Kreis eine Seltenheit.

Wenn die Großeltern Jacobi auf ihr Leben zurückblicken, fragen sie sich: Wo ist die Zeit geblieben? Fünfundvierzig Jahre sind sie miteinander verheiratet. Die ältesten Enkel, Mitglieder der CDU wie die Eltern, wie die Großeltern, treten nun schon in die Fußstapfen der Vorfahren.

Bevor die Jacobis im Berliner Kulturpark vor acht Jahren seßhaft wurden, waren sie noch alle drei Wochen überwiegend nachts mit dem dreißig Meter langen Wagenzug unterwegs, um sich jedes Mal in einer anderen Stadt niederzulassen. An einen Acht-Stunden-Tag kann der Schausteller auch heute noch nicht denken.

Für die Kinder ist inzwischen vieles leichter geworden. Sie sind noch mit den Eltern von Ort zu Ort gezogen, immer dort zur Schule gegangen, wo Vater und Mutter mit ihren Karussells Station machten.

Einen Beruf haben sie alle gelernt – Maschinenschlosser, Autoschlosser, Sekretärin – und sich zum Maler, Tischler, Kraftfahrer, Schweißer und all dem qualifiziert, was der Schausteller braucht, um beweglich und unabhängig zu sein. Die Enkelkinder lebten die Woche über im Internat, wurden montags zur Schule gebracht und sonnabends abgeholt. Das gab jedes Mal Tränen, die Großvater Jacobi trocknen musste, der sie meistens abholte und fortbrachte, während ihre Eltern auf dem Platz den Betrieb in Schwung hielten.

Die harten Jahre eines Schaustellerleben haben an der Gesundheit gezehrt. Edith und Siegfried Jacobi wissen, was Krankheit bedeutet. Ihr Engagement für die geschädigten Kinder aus kirchlichen und staatlichen Einrichtungen wurde aus dem eigenen leidvollen Erleben und aus Dankbarkeit für Genesung und fürs Dasein geboren. In diesem Jahr erlebten die Kinder nun schon zum zweiten Mal einen Tag im Berliner Kulturpark und eine vorweihnachtliche S-Bahn-Fahrt mit Bescherung, durch Spenden von Berliner Schausteller ermöglicht.

Ferien haben die Jacobis nie gemacht. Sie waren doch sowieso ständig unterwegs, einmal sogar bis nach Ungarn. Ein Schausteller lebt für seinen Beruf, dem er sich mit allen Fasern seines Herzens verbunden fühlt und der meist auch den Mittelpunkt des Familienlebens bildet.
Die Generationen leben dichter beieinander, lernen voneinander, Rücksicht zu üben, Verständnis aufzubringen, miteinander auszukommen, weil sie sich brauchen, die Jungen und die Alten, deren Rat befolgt wird nicht nur aus gewohnten Gehorsam, sondern aus Achtung vor einem schaffensreichen Leben seinen Erfahrungen.

Sehnsucht nach dem heimatlichen Arnstadt kommt höchstens im Winter auf. Bis vor wenigen Jahren sind die Kinder mit ihren Karussells und Wagen zum Arnstädter Weihnachtsmarkt in den Thüringer Wald gefahren. In diesem Jahr stehen sie zum achten Mal auf dem Berliner Weihnachtsmarkt. Danach werden Fahrzeuge zur Generalreparatur ins Winterquartier gebracht.

Das Christfest verleben sie zu Haus, fünf Familien, eine Tochter und drei Söhne, neun Enkelkinder. Da steht die still. Da singen sie Weihnachtslieder und essen Stollen, reden über die nächste Saison und genießen eine Zusammengehörigkeit, die Familientraditionen festigten.

© Gudrun Skulski. NEUE ZEIT- Nr. 292 – 10.12.1988 S. 8

Abschrift vom originalen Zeitungsartikel © Margit Ramus

NEUE ZEIT 10.12.1988. Nr. 292. Seite 8  FRAU/FAMILIE/GESELLSCHAFT

 

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