Michael H. Faber, promovierter Kulturwissenschaftler und Landesmuseumsdirektor i. R., ist mit zahlreichen Veröffentlichungen ausgewiesener Experte der Schausteller- und Jahrmarktsgeschichte. Im LVR-Freilichtmuseum Kommen hatte er 1995 erstmals den „Jahrmarkt anno dazumal“ organisiert, dessen Konzept zum Vorbild für viele historische Jahrmärkte geworden ist. Faber hat auch für die Kirmes & Park Revue zahlreiche Beiträge geschrieben.
Michael Faber Beitrag zum Sexismus auf Volksfesten
„Es kann nicht sein, was nicht sein darf.“
Die Rassismus- und Sexismus-Debatte gefährdet die Vergnügungskultur.
Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung von Michael H. Faber
In dem Gedicht „Die unmögliche Tatsache“ (1909) von Christian Morgenstern sinniert ein gewisser Palmström, soeben an einer Straßenecke von einem Fuhrwerk überfahren, darüber, ob es staatlicherseits verboten sei, Lebende in Tote umzuwandeln.
„Und er kommt zu dem Ergebnis: Nur ein Traum war das Erlebnis. Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.“
Wenn es um vorauseilenden Gehorsam gegenüber „politischer Korrektheit“ geht, können solche Träume zu Tatsachen werden. Das spüren derzeit die Schausteller.
Soeben einer wirtschaftlich fast tödlichen Pandemie entkommen, sehen sie sich der Gefahr einer neuen Epidemie ausgesetzt, ausgelöst durch das Virus des Hypersensiblen. Genährt mit
Unwissenheit und mittlerweile hoch infektiös, trachtet es danach, Wirklichkeiten unsichtbar zu machen.
Was man nicht sieht, gibt es auch nicht.
Auf diesen kurzen Nenner, so scheint es, wollte es am 17. Januar 2019 in Stuttgart die Fraktionsgemeinschaft SÖS-LIN-KE-Plus mit ihrem Antrag bringen, die
„Zulassungsrichtlinien für das Stuttgarter Frühlingsfest und das Cannstatter Volksfest an[zu]passen“:
Die Lokalpolitiker forderten den künftigen Ausschluss von „Bewerber*innen, die rassistische, sexistische, homo- und transphobe, gewaltverherrlichende sowie andere menschenfeindliche Inhalte wie Parolen und Bilder auf ihren Fahr- und Schaugeschäften und Pavillons darstellen oder entsprechende Produkte verbreiten oder verkaufen.
Dem Antrag sollten wohl bundesweit entsprechende Reaktionen festausrichtender Behörden und Veranstaltungsagenturen mit der Aufnahme solcher Verbote in ihre Zulassungskriterien folgen … Prompt machte ein Veranstalter in seinem Schreiben an die Beschicker darauf aufmerksam, dass Motive mit anstößigen Andeutungen wie beispielsweise aufreizend posierende Frauen, nackte Körperdarstellungen, dunkelhäutige Menschen mit Baströcken u. Ä. auf einem Volksfest nicht mehr zeitgemäß sind.
In dem Schreiben heißt es weiter: „Sollten Sie sich nicht sicher sein, ob Ihre Standgestaltung politisch korrekt ist, schicken Sie uns gerne vorab ein Foto […l, damit man sich bereits im Vorfeld gemeinsam über Alternativen Gedanken machen kann.“
Zugegeben: Es gibt diese Motive auf dem Jahrmarkt und vielleicht sogar etwas mehr als eine Handvoll davon.
Schausteller gestalten Feste. Viele Feste kultivieren das Stereotype.
Ausgelassenheit und Ausschweifung, das Übertriebene und Hemmungslose sind deren Merkmale. Der rheinische Karneval ist nur ein Beweis.
Und dem Fest entsprechend ist das Stereotype, bewusst Überzeichnete auch ein Charakteristikum der schaustellerischen Darbietung. Das war immer so, und das macht den Rummelplatz bis heute so faszinierend, so attraktiv.
Mit der Airbrush-Pistole übertrieben gemalte Damenpos und -brüste, das Bikini-Girl, das hoch oben auf der Front eines Süßigkeiten-Geschäfts schmachtend seinen Lolli lutscht, der schnauzbärtige Bayer, der anderorts auf einer Front in einen Dirndl-Ausschnitt schaut.
Das alles mag sexistisch anmuten, auch wenn das tiefe Dekolleté der längst nicht mehr nur auf bayerischen Festen getragenen Dirndl-Mode für die Damenwelle unverzichtbar gilt.
Im Gewimmel der Reize auf dem Rummelplatz dürfte die Mehrheit des flanierenden und stets aufs Neue abgelenkten Publikums solche Motive jedoch eher übersehen. Sie bleiben schlichtweg „unter der Wahrnehmungsschwelle“, wie es Mathias Bury in den Stuttgarter Nachrichten formuliert hat.
1) Bei denen, die dennoch die Motive wahrnehmen, dürfte deren Maß des Aufreizens, das das pornographische Niveau der Lederhosen-Jodel-Filme der 1970er-Jahre kaum erreicht, angesichts der Hardcore-Flut im Web ein müdes Lächeln provozieren. Und wer sich wirklich darüber aufregt, wird lieber in den Keller als auf den Kirmesplatz gehen, um zu lachen.
Ist es rassistisch, wenn sich auf der Schießbudenfront Cowboys und Indianer in die Augen schauen — auf Augenhöhe?
Der Verfasser erinnert sich gerne an die vielen Cowboy- und Indianerspiele, in denen er und seine Nachbarkinder ihre Spielzeuggewehre aufeinander richteten. Als kleiner Junge trug der Verfasser zu Karneval auch mal ein Cowboykostüm und schaute sich später im Kino Western an.
Rassist ist er dennoch nicht geworden. Und er empfindet es auch nicht rassistisch, wenn ihm am China-Imbiss ein Herr im „Tang-Anzug“ entgegenlächelt oder ihn am Schwarzwaldgrill eine junge Dame mit Bollenhut zuzwinkert.
Wer Abbildungen von Cowboys und Indianer, Chinesen und Farbigen in ihrer traditionellen Kleidung allein schon wegen des ihnen anhaftenden Stereotyps als rassistisch einstuft und verbieten will, muss dies auch bei der „Schwarzwälderin“ tun. Denn der für den Schwarzwald als so typisch empfundene Bollenhut, Bestandteil einer um 1800 im Zuge der Romantikwelle aufgekommenen Tracht, wurde stets nur zu Festen getragen, nur von evangelischen Mädchen und Frauen und auch nur in den drei Ortschaften Gutach, Kirnbach und Hornberg-Reichenbach.
Gibt es nicht, was man nicht sieht? Mit Motivverbannung lässt sich das seit Anbeginn der Menschheit latente Problem von Menschenverachtung im Alltag nicht lösen. Schlimmer noch: Das Problem wird verdrängt. Das Unsichtbar Machen von Wirklichkeiten erreicht inzwischen eine Dimension, die große Bereiche unserer Kulturgeschichte negiert.
Besagte Stuttgarter Fraktionsgemeinschaft hatte offenbar in ihre Antragsbegründung ihre
Beobachtungen auf dem historischen Jahrmarkt aufgenommen und in profunder Kenntnis der
Argumentation mit Scheinzusammenhängen wie folgt gedeutet:
„Die heute auf dem Schlossplatz ausgestellten Schau- und Fahrgeschäfte wurden in früheren Zeiten neben rassistischen Völkerschauen genutzt. Während weiße und deutsche Kinder auf dem Karussells Spaß hatten, wurden Schwarze Menschen wie Tiere in einem Zoo ausgestellt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass beim Historischen Volksfest im letzten Jahr auf der Front eines Schaustellerwagens mit Namen ‚Das Land des Lächelns‘ mehrere schwarze Menschen als Sklaven dargestellt wurden, die mit verzerrt und lächelnd dargestellten Gesichtern beispielsweise eine weiße Frau bedienen. Dieser Wagen mit eindeutig rassistischen Stereotypen stand mitten auf der Königstraße vor dem Kunstmuseum.“
Versucht man, dieser Argumentation zu folgen, müssten historische Schaustellergeschäfte schon deshalb grundsätzlich verboten werden, weil sie vor Generationen auf Festplätzen zufälligerweise neben einer aus heutigen Sicht rassistischen Schaudarbietung platziert gewesen sein können.
Indes ist es ein glücklicher Zufall gewesen, dass „Das Land des Lächelns“ in Nachbarschaft des Museums stand. Denn auch das, was die Fassade dieses historischen Schaustellergeschäfts ziert, ist Kunst. Auch wenn die chinoisen Frontmotive nicht an die kunsthistorische Bedeutung der Objekte in der Museumssammlung herankommen.
Beides, die Schaustellergemälde wie die Werke im Museum, verbindet der Geist der Zeit, in der sie entstanden sind. Sie sind Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, vermitteln Denkweisen, Haltungen, auch Begierden und Gelüste …
Mit diesem Zeitgeist nicht vertraut, kommt es leicht zu Fehldeutungen und Versuchen der Zensur.
In der Sammlung des Stuttgarter Kunstmuseums könnte dies etwa solche Werke treffen wie „Drei Weiber“ des eben den Zeitgeist anprangernden Otto Dix aus dem Jahr 1926, das drei nackte Prostituierte zeigt oder sein Gemälde „Triumph des Todes“ von 1934, auf dem sich eine fast nackte Blondine an ihren bekleideten Liebhaber schmiegt.
Das Gemälde von Christian Adam Landsberger „Badender Knabe“ von 1902 könnte indes als pädophil missverstanden werden. Auf der Website des Museums werden die Werke erklärt.
Es geht um die nackte Wahrheit in der Kunst. Sind prähistorische Darstellungen der Fruchtbarkeit, vor 30.000 Jahren entstanden, sexistisch?
Sind nicht auch Tizians seit ca. 1538 nackt auf einem Bett liegende „Venus von Urbino“, heute in den Uffizien in Florenz die Besucher anlächelnd, Manets „Olympia“, 1863 dieser Venus nachempfunden, aber in Wirklichkeit eine Prostituierte aus Paris zeigend oder die gesichtslosen, umso mehr geschlechtsbetonten „Great American Nudes“ des Pop-Art-Künstlers Tom Wesselmann nicht auch sexistisch? Ja sie sind es. Aber damit sind sie noch lange kein Ärgernis.
Die Genderdebatte blendet biologische Sachverhalte kategorisch aus, „als wären wir keine physischen, sondern nur geistige Wesen. Dass unsere Hormone am Aufbau der Zivilisation und Kultur mit beteiligt waren, wird […] übersehen“, konstatiert Philipp Meier in der Neuen Zürcher Zeitung: „Die weibliche Nacktheit ist eine Konstante in unserer Kulturgeschichte. “
Das Weib und seine Physis – damit befasst sich ein ganzes Genre der Illusionskunst, seitdem es diese gibt: Das „Gorillamädchen“ als Metamorphose des Zart-Weiblichen zum Horror-Männlichen, die „Dame ohne Kopf‘ oder die „Dame ohne Unterleib“ als spiegelgetrickste Zerstörung weiblicher Vollkommenheit sind altbekannte Darbietungen, die in dieses Genre fallen. Somit sind sie für einen Jahrmarkt, der wirklich Schaustellerhistorie zeigen will, unverzichtbar.
Es ist der Verdienst eines Schaubudenbesitzers, als letzter Impresario solche Darbietungen in seinen historischen Kuriositäten-Schaubuden lebendig zu halten.
Unlängst erhielt er für ein historisches Volksfest eine Absage mit der Begründung: „Zudem haben wir die klare Anforderung bekommen, keine Stereotypen, keine Freakshows etc. abzubilden.“
Wieder ein Missverständnis: Freakshows, die Zurschaustellung von Menschen mit tatsächlich vorhandenen physischen Besonderheiten und somit etwas ganz Anderes als diese Illusionsdarbietungen, sind in Deutschland seit langem verboten.
Das Verbot historischer Schaustellergeschäfte aufgrund vorn Aufmachungen und Programmen, die heutiger politischer Korrektheit nicht mehr entsprechen, würde ein Leugnen der Kulturgeschichte bedeuten.
Statt Verbot gilt es, über die historische Wirklichkeit aufzuklären. Wie erfolgreich dies gelingen kann, zeigen die Erfahrungen des LVR-Freilichtmuseums Kommern.
Mit seinem „Jahrmarkt anno dazumal“ hatte das Museum 1995 ein Großevent geschaffen, das bewusst Entertainment mit Information über die Geschichte der Vergnügungskultur verbinden wollte. Seither erklären dort nicht nur Ausstellungstafeln die historischen Attraktionen. Auch historische Schaudarbietungen werden in ihren geschichtlichen Kontext eingeordnet, wie die „Hinrichtung einer Person aus dem Publikum auf der Guillotine“ in Anlehnung an jene Illusionsdarbietung, mit der die Schaustellerfamilie Schichtl nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 die Festplätze erobert hatte. Der „Henker“ (übrigens bis 2018 der Verfasser dieses Beitrags) beginnt die Vorstellungen stets mit einem Vortrag über die Geschichte dieser Darbietung und ordnet sie vor dem andächtig zuhörenden, auch Fragen stellen dürfenden Publikum in damalige gesellschaftliche und politische Zusammenhänge ein.
2018 ist das Freilichtmuseum Kommern noch einen Schritt weitergegangen und hat, wie erwartet, für Furore gesorgt. Es inszenierte eine Wurfbude, an der auf nachgebildete Herero-Köpfe gezielt werden konnte. Das Vorbild lieferte eine Bildpostkarte vom Jahrmarkt im oberpfälzischen Weiden aus dem frühen 20. Jahrhundert, die eben eine solche Bude zeigte. Die Museumsbude stand etwas abseits des „Laufs“ und wurde selbstverständlich nicht betrieben. Tausende Besucher lasen die vor den Köpfen aufgestellte Informationstafel „Rassismus auf dem Jahrmarkt“, die Bezug zum Massaker der deutschen Kolonialherrschaft am Stamm der Herero in Südwest-Afrika von 1904 nahm – dem ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts.
„Merkwürdige Kirmes-Bude. Was hat das ‚Das fidele Negerwerfen‘ zu bedeuten?“, titelte die
Boulevard-Zeitung Express. Und dann erfuhren die Leser: „Es handelt sich um ein Mahnmal – GEGEN Rassismus!“
War die Resonanz der Medien – selbst ausländische berichteten – auch im Folgejahr 2019 ebenso durchweg positiv wie die der Jahrmarkt Gäste, so sah sich die Museumsleitung in diesem Jahr beim ersten Museums-Jahrmarkt nach der coronabedingten Zwangspause dazu genötigt, die wieder errichtete Bude noch vor Veranstaltungsbeginn wieder abzubauen. Denn die Bude war diesmal in die Zensurfalle sozialer Medien geraten. Dort zeigten Posts Fotos der Bude, ohne dass man die Informationstafel richtig erkennen geschweige denn lesen konnte. Somit waren die Abbildungen missverständlich: „Zu diesem Foto muss man eigentlich nichts sagen. Was da zu sehen ist, ist einfach geschmacklos“, war eine der Reaktionen der Desinformierten.
Diese und weitere Kritik an der Bude mit Unkenntnis des Sachverhalts abzutun, wäre jedoch zu einfach, Die bislang so nicht gekannte Häufung der Kritik könnte nämlich ein Hinweis darauf sein, dass die Sensibilisierung, was Ausgrenzung, Rassismus, Sexismus betrifft, innerhalb weniger Jahre deutlich zugenommen hat. Dennoch oder gerade deshalb will das LVR-Freilichtmuseum Kommern das provokative „Negerwerfen“ auf seinen künftigen Jahrmärkten wieder zeigen – nach gründlicher Überarbeitung der
Gesamtpräsentation einschließlich der Informationstafel und vielleicht auch nicht mehr eingereiht in die Zeile der Schaustellergeschäfte, sondern als Objekt in einer Begleitausstellung.
Auf die zunehmende Sensibilisierung weiß das Schaustellergewerbe durchaus zu reagieren – mit konstruktiven Maßnahmen und mit Kreativität wird bei der Neugestaltung von Geschäften schon längst auf Darstellungen geachtet, die als verletzend empfunden werden können oder alleine deshalb nicht korrekt sind, weil es die politische Korrektheit so will.
Kreativität wird künftig gefordert sein, wenn es aus jahrmarktsgeschichtlicher Sicht um den absolut notwendigen Erhalt historischer Motive und Schaudarbietungen geht.
Deutlich wahrnehmbar präsentierte und gut verständliche Erklärungen ihres historischen Kontextes müssen bei der Präsentation künftig wohl beachtet werden. Damit würde das Schaustellergewerbe einen einzigartigen Beitrag zu seiner eigenen Kulturgeschichte liefern.
Volksfeste sind Plätze der Integration und Inklusion, wahre Ausgrenzung und Diskriminierung findet ganz woanders statt als in den Schaustellermalereien.
So ist es für das Gewerbe ein Thema geworden, wie Barrieren auf dem Volksfest für Menschen mit besonderen Bedürfnissen reduziert werden können. Zugegeben ist das leichter gesagt als getan. Freifall-Tower oder Looping-Fahrgeschäfte werden auch weiterhin kaum ältere Menschen ansprechen und lassen sich nicht barrierefrei umrüsten.
Aber Imbissbetriebe, Spielbuden und so manche Rundfahrgeschäfte sind bereits entsprechend umgestaltet, so wie auch Festplatzkonzepte an sich dem demografischen Wandel und, damit verbunden, der Zunahme spezifischer Bedürfnisse Rechnung tragen müssen.
Mit deutlich erkennbaren Maßnahmen der „Inklusion“ wird der Jahrmarkt nicht nur für alle attraktiver, sondern auch dem zu sehr vom Feinsinn und zugleich Sinnentleerung geprägten Diskurs um Ausgrenzung überzeugend Paroli geboten. Das darf schließlich sein!“
© Michael Faber: Kirmes und Park Revue 06/2022 Seite 106f
Quellen | 1) Mathias Bury in einem Pro und Contra zum Artikel „Sollen die sexistischen Bilder vom Wasen verschwinden?“ In: Stuttgarter Nachrichten 3.5.2022
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