In der ehemaligen DDR schrieb Reinhard Wengierek eine sommerliche Betrachtung von Volksfestfreuden.
Über Vogelwiese und Wiesenmarkt
Seit 459 Jahren pilgern die Eislebener scharenweise zu ihrem Wiesenmarkt.
251 Jahre besteht Neugersdorfs „Jacobimarkt“.
Seit Urzeiten vertreiben die Eisenacher im Frühling den Winter und feiern ihren „Sommergewinn“. Ob Hacke- und Hammertest, Kritze-, Krebs- und Heiratsmarkt, Pfingstbier, Eierbetteln, Stoppelmarkt, Buttermilchfest, Pflaumenkuchenmarkt, Kirsch- und Rosenfest, Zwiebel- und Topfmarkt — an Originalität fehlt’s wirklich nicht.
Wer alle Heimatfeste, die alten und die vielen neuen, besuchen wollte, müsste täglich auf mehreren Hochzeiten tanzen, und das ein Jahr lang. Noch nie wurden in unserem Lande so viele Volksfeste gefeiert wie heuer: nämlich über 3 200 (vor zehn Jahren waren es 800).
Ob nun Stadtjubiläum, Rummel, Markt, Betriebsfestspiele oder fröhliche Zusammenkünfte im Wohngebiet, Traditionelles oder Neuentstandenes — Festivitäten dieser Art erweisen sich Jahr für Jahr als Magnet für Millionen. Und hinter Spiel und Spaß steht tiefere Bedeutung: Liebe zur engeren und weiteren Heimat, das Besinnen auf Traditionen, das Wecken von Talenten und das Stärken kommunalen Gemeinschaftsdenkens. — Dass viel und ausdauernd und in steigendem Maße gefeiert wird, ist eine Selbstverständlichkeit und zugleich der Genuss des durch die Arbeit Geschaffenen. Bleibt die Frage: Wie denn wird gefeiert?
Mit den Volksfesten ist’s wie mit den Geburtstagsfeiern: Sie werden umso besser, je abwechslungsreicher, vielfähiger ihr Programm. Je aktiver alle Gäste sich einbringen, wie es modern heißt, desto mehr Erlebnisse werden sie haben. Spontaneität ist ein wesentliches Element, das Programm nur der abgesteckte Rahmen, innerhalb dessen Kommunikation entsteht — oder eben ausbleibt. Um mit einem gelehrten Zitat zu sprechen („Christenlehre“, 5/82): „Im Fest nehmen sich die Teilnehmer in gesteigerter Sensibilität selbst wahr und erleben sich und die Dinge in ihren Verhältnissen intensiv direkt. Feste tragen bei, Sinn und Zusammenhang des Lebens zu erfahren.“
Komm auf die Schaukel…
Also werfen wir uns die Lederjacke über und uns ‚rein ins Gewimmel, beispielsweise in das der Dresdner Vogelwiese. Der Riesenplatz am Großen Garten ist proppenvoll.
Man rummelt durch den Staub über die Holzplanken, lässt sein Taschengeld, schaut zu, isst Eis, lässt sich von den Musikmaschinen aufheizen, von Karussells durchdrehen. —
Beispiel zwei: der Wiesenmarkt in Eisleben. Dreimal Riesenrad, zweimal Geisterbahn (mal Teufel, mal Gespenst), kreisende Holzpferde, schwebende Plastikschwäne, trabende Ponys, Achterbahn, altväterliche Berg-und-Tal-Fahrt, neuzeitlicher Calypso, Twister, Spinne, Marionettentheater, Exotenschau und Captain Mortales Kampf mit Motoren an der Todeswand.
Zum Abschluss Brillantfeuerwerk;
Sonntagnachmittag halbe Preise für Kinder, und immer ausladendes HO/Konsum-Markttreiben: Textilien, Kurzwaren, Hausrat, Sportartikel, Naschwerk.
Warum nicht noch Spielzeug, Bücher? —
Auf dem Marktplatz ein historisches Spektakel. Warum nicht auch Kabarett, Artistik, mit den Volkskunstgruppen des Territoriums? Und mg das Eislebener Theater sich so einfallslos produzieren beim Spektakel? Gibt es wirklich keine originelle Wiesenmarkt-Initiative des Ensembles, die ja auch gleich Publikumswerbung wäre? Verschenkte Möglichkeiten.
Routine oder Initiative
Noch mehr verschenkte Möglichkeiten in Dresden. Sind sich die Theater, Museen, die Kunsthochschulen (etwa mit ihren Faschingserfahrungen), die Künstlerverbände, Tageszeitungen (etwa mit ihren Pressefest-Erfahrungen), die Verlage, der Kulturbund, die FDJ (etwa mit ihren Festivals Erfahrungen), der DTSB zu schade für die Vogelwiese?
Ganz abgesehen von den vielen Laienensembles in Ausbildungsstätten und Betrieben. Würden die Veranstalter Aktionen der genannten Institutionen bzw. Kollektive sinnvoll dem „Rummel“ zuordnen (der, dies nebenbei, im kleinen Eisleben wesentlich besser gemischt war als in der Bezirksstadt) —welche Vielfalt des Erlebnis-Angebotes käme da zustande.
Vom Straßentheater, -Zirkus, -Varieté bis um Sport-Spiel-Kunstmarkt (schauen — mitmachen — kaufen).
Gerade Dresden mit seinen Potenzen als Groß- und Kunststadt ist ein Beispiel für platte Volksfestroutine, aber auch schöpferische Initiative: einerseits die Vogelwiese als Konfektionierter Allerweltsbetrieb; sogar der historische (und eigentlich stilbildende) Anlass bleibt nahezu unbemerkt; andererseits das jüngste Kulturbundfest auf der Brühlschen Terrasse als schönstes Beispiel für einfallsreiches, originelles In-Verbindung-Treten von Berufs- und Laienkünstlern mit dem Publikum; ein attraktives Angebot von Show, Information und Selbstbetätigung.
Jedem Fest sein Charakter
Ein Resümee der Qualität vieler Volks- oder Heimatfeste ist unmöglich, denn die vielen Feste fallen zu unterschiedlich aus. — Paar Karussells, paar Buden, eine Disko, das ist schnell aufgebaut und auch ganz gut.
Besser wäre, eine Idee (ein historischer Aufhänger) gäbe ein Thema vor und also besonderen, profilierenden Anstoß für allerlei Zauber. Noch viel besser wäre es, wenn zu den kulinarischen und schaustellerischen Angeboten noch künstlerische, also geistige kämen.
Die Tendenz aller Volksfeste geht schon in die diese Richtung — nur mit stark unterschiedlicher Konsequenz! Feste feiern ist eben nicht in erster Linie eine Frage materieller Voraussetzungen, sondern eine der Phantasie, der Ideen, der Einfälle.
Warum rufen die Festverantwortlichen die Bürger, Betriebe, Organisationen nicht auf zum Ideenwettbewerb? Vielen fällt vieles ein….
Ich glaube, ein Volksfest wird erst dann richtig gut, wenn sehr viele mitmachen. Eben nicht nur in dem Sinne, dass sie hingehen, sondern, dass sie etwas darbieten, etwas, was sie selbst sind, womit sie sich in ihrer Freizeit beschäftigen oder etwas, was mit ihrem Beruflichen zu tun hat. Wie diese Darbietung gestaltet, wo sie eingesetzt wird, das muss kollektiv mit dem Veranstalter, etwa dem Festkomitee, durchdacht werden.
© Reinhard Wengierek
Abschrift vom originalen Zeitungsartikel © Margit Ramus
Quellen | Zeitungsartikel von Andrea Schröder–Patzer aus dem Jahre 1980
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