
In der ehemaligen DDR wurde am 31. Januar 1987 in der Tageszeitung Neue Zeit, ein Bericht über das Leben und Arbeiten der Schausteller jener Zeit veröffentlicht. Leider ist der Name des Autors nicht hinzugefügt.
Kommentar der Verfasserin © Margit Ramus
„Dynastien“ in bunten Wagen Im Gespräch mit einigen Schaustellerfamilien
Bald geht’s wieder auf jährliche große Fahrt
Mit einem Tanzbären zog ein gewisser Jacob Heil gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch die Lande. Er war ein Vorfahr einer der vielen „Dynastien“, die es unter Schaustellern von alters hergibt und die noch immer da sind. Um den Menschen Freude zu bringen.
Lange waren sie „Fahrendes Volk“, und wir kennen bezeichnenderweise ja heute noch die hässliche Redensart: “Nimm` die Wäsche von der Leine – Die Herrschenden jener Zeit und ihre diversen Ämter sahen Leute wie den Jacob Hell nicht gern. Ob sie nun Bären auf den Marktplätzen tanzen ließen, auf dem Schlappseil herumsprangen, Tiermissbildungen vorführten oder Feuer schluckten. Sie machten jedoch vielen großen Spaß.
Jeder wird wohl fast jeden kennen, und viele werden sogar miteinander verwandt sein. Begrüßungsschreie werden laut werden, man wird sich umarmen oder auf die Schulter klopfen, wenn übermorgen die 3. Schaustellerkonferenz in der Stadthalle von Karl-Marx-Stadt stattfindet, um — Wie Bodo Zabel, Leiter der Abteilung Unterhaltungskunst im Ministerium für Kultur, formulierte — die Tradition der Schaustellerbetriebe zu bewehren, wieder zu beleben und ihre Leistungsfähigkeit zu fördern“.
Wir haben 650 Schausteller in der DDR
Wir haben 650 Schausteller in der DDR. Sie sind aus unserer Freizeit nicht mehr wegzudenken, ob auf einem der Weihnachtsmärkte, bei irgendeinem Volksfest zwischen Kap Arkona und der Rhön, beim Frühlingsfest in Dresden oder beim ,,Vogelschießen“ in Rudolstadt. Sie ziehen durch unser Land, Kinder stehen am Straßenrand, bohren womöglich gar in der Nase und bestaunen die buntgestrichenen Wagen, ungezählte Plätze werden für zwei Tage bis zu vier Wochen von Ständen und Buden, Karussells und Riesenrad verziert. Da plärren die Lautsprecher, machen Luftgewehre „plopp“, fliegen Ringe oder Bälle durch die Luft, scheppern die Würfel.
Dieter Schuster
Wenn die Sonne erst wieder wärmt, muss ich weg! Nichts hält mich dann mehr in Berlin. Die Straße lockt!“ Dieter Schuster, der mir das sagt, ist aus einer jener Schaustellerfamilien, die man kennt. Es ist manchmal etwas drastisch, dafür sehr verständlich, was er mir erzählt. „Es muss endlich wieder rattern unterm Arsch!“ Sagt’s und denkt an die geliebte Zugmaschine und die 14 (in Worten: vierzehn) Zehn-Meter-Wagen, von denen er immer zwei gleichzeitig durch Kurven, starkes Gefälle hin-unter oder auf sandige Plätze bugsieren muss.
Doch noch liegen Schnee und Eis auf den ersehnten Straßen, noch lässt die Saison auf sich warten, noch stehen die 14 bunten Wagen irgendwo in der Hauptstadt, noch kann auch ein Schausteller nichts anderes tun als reparieren, was im vergangenen Jahr allzu sehr beansprucht wurde, oder frische Farben auftragen. Und eben warten, dass – viel zu langsam – endlich wieder März wird.
Barbara Börner / Rausch
Ich habe mit Barbara Börner gesprochen, überall nur „Bärbel“ genannt und weithin bekannt, weil aus der Sippe der Familie Rausch. Deren Vorfahr war schon erwähnter Jacob Heil, der mit dem Tanzbären umherzog. Andere aus der Rausch-„Dynastie“ waren Gaukler und Schlappseiltänzer, und heute besitzen sie Karussell oder Geisterbahn, Würfelbude oder Luftschaukel, Schießhalle oder Autoscooter, Rutschbahn oder Automatenzelt.
„Im Winter“, sagt Barbara Börner, „muss jeder Schausteller viele handwerkliche Fähigkeiten haben, muss möglichst Tischler, Maler, Schlosser und Elektriker in einer Person sein.“ Und sie erzählt mir, dass gar mancher Berufskollege, von denen übrigens viele die „Neue Zeit“ nicht nur wegen des „Materialanzeigers“ lesen, auf Abendschulen seinen Schweißerpass erwirbt, um selbst reparaturbedürftige Metallkonstruktionen eigenhändig in Ordnung bringen zu können.
Ja, ich erfahre vieles Interessante von Barbara Börner, die nicht nur dem Arbeitskreis der Berliner Schausteller beim Magistrat angehört, sondern auch dem Beirat für die Entwicklung des Schaustellerwesens beim Ministerium für Kultur.
Das Mitglied der Familie Rausch hofft, dass auf der Konferenz in der Karl-Marx-Städter Stadthalle auch Probleme angepackt werden, darunter eins, dass – so hat mir auch Dieter Schuster bestätigt – alle Schausteller, die eine „Warenausspielung“ betreiben, für besonders dringlich halten. Es geht darum, dass kein Artikel mehr als sechs Mark kosten darf, wenn er als Gewinn bei Würfelbuden, Ringe- und Ballwerfen oder Fädenziehen, in Schießhallen oder bei anderen Gelegenheiten ausgesetzt werden soll. Das sei, erfahre ich, lange schon reichlich überholungsbedürftig. Die Schausteller halten 15 Mark als obere Grenze für wünschenswert und möglich.
Hinzu komme, dass jeglicher Bedarf für Tombolen – für Losbuden beispielsweise – nur bei den GHG Leipzig und Erfurt zu haben ist. Ob es die (übrigens öffnungs- und missbrauch sicher zugestanzten und mit immer der gleichen Anzahl Gewinne versehenen) Lose sind, ob Magazine und Bleikugeln für die Luftgewehre, ob die Würfel oder Bälle für die entsprechenden Einrichtungen auf Rummelplätzen, Volksfesten, Weihnachts- oder Frühlingsmärkten, ob es um Kunstblumen geht, die dazu benötigten weißen Röhrchen oder andere „auszuspielende“ Kleinigkeiten – all das ist nur über Leipzig oder Erfurt zu beziehen.
Wie im Chor versichern mir meine Gesprächspartner einstimmig:
Warum nicht auch in Berlin, wo es übrigens 33 Schausteller gibt, die ihren ständigen (Winter-Wohnsitz hier haben. Ich habe mich erkundigt: Manfred Polauke, Direktor der Handels- und Gewerbekammer Berlin, will dafür sorgen, dass sich hier bald etwas regt.
Jede Warenausspielung bedarf einer Spielsystemgenehmigung durch den VEB Staatszirkus. Es gibt bei diesem auch weit über die Grenzen unseres Landes bekannten und beliebten volkseigenen Unternehmen eine Abteilung Spielwesen, die für häufige Kontrollen der einschlägigen Schausteller-„Geschäfte“ zuständig ist und dieser Pflicht regelmäßig nachkommt. „Schließlich“, sagt Barbara Börner, „können wir die Preise ja nicht selber machen.“
Und Dieter Schuster verrät mir, dass es nicht nur bei Eintrittspreisen und anderen finanziellen Belangen eine ständige Kontrolle gibt, sondern beispielsweise auch bei den Maßen und Gewichten.
Schausteller-Jargon
Ich lerne also, dass beim Ringe werfen, von den Schaustellern in ihrem Jargon „Hoppla“ genannt, die Ringe einen zwei Zentimeter größeren Durchmesser haben müssen als die Klötze, auf denen die „zu erwerfenden“ Gewinne liegen, dass auch die Bälle, mit denen die Blechbüchsenpyramiden zum Purzeln zu bringen sind, in Größe und Gewicht vorgeschrieben sind.
Apropos Jargon: Natürlich nennt kein Schausteller ein Riesenrad etwa mit diesem allgemein bekannten, wenn auch in keinem Lexikon aufzuspürenden Namen, sondern das einst als „Russische Schaukel“ eingeführte riesige Ding wird „Russe“ benamst und ein Kettenkarussell „Flieger“ sowie jedes Fahrgeschäft einfach „Bahn.
Eberhard und Inge Berger
Da mir auf dem Berliner Weihnachtsmarkt vor wenigen Wochen besonders einer von drei dort aufgebauten „Russen“ ins Auge gefallen ist, weil „er“ mit gemalten barockartigen Bildern und Holzschnitzereien andere Riesenräder glatt aussticht, besuche ich also Eberhard Berger in seiner Berliner Wohnung.
Das „gute alte Stück“, das mich hier hergelockt hat, ruht zurzeit noch in zwei jener bunten Wagen, die nicht nur zum Wohnen, sondern natürlich auch für Geräte und Anlagen benutzt werden. Bergers „Russe“ wartet – wie der Rest der Familie – auf Sonnenschein und wieder wärmere Tage. Das Riesenrad, das der Vater Berger 1930 bauen ließ, ist im wahrsten Sinne des Wortes ein ererbtes „gutes Stück“. Es wird aber auch ständig gepflegt, und niemand käme auf den Gedanken, dass diese Schaustellerfamilie mit ihm quasi schon zweimal um den Äquator gezogen ist, von Ort zu Ort, von Platz zu Platz. Ungezählte Male mussten die zwölf Gondeln abgenommen und verpackt werden, ebenso oft hatte sich das 16-Meter-Rad jeweils acht.
Mal für 50 Pfennige zu drehen, konnten sich zahlenmäßig kaum vorstellbar viele Luftreise-Interessenten vom Kleinkind bis zur Greisin die Welt von einer „höheren Warte“ betrachten.
Was die Luftfahrten eines solchen Kleinkindes angeht, so erzählte mir Inge Berger, die „privat geheiratete“ Ehefrau (so nennt das der Schausteller, wenn der Partner nicht aus dem „Milieu der Fahrenden“ stammt), dass sie vor vielen Jahren die Tochter Ilona oft aus einer der Gondeln operativ entfernen musste, weil Klein-Ilona, erst wenig mehr als zwölf Monate alt, immer wieder ungesehen in eine hinein trippelte.
Beide Töchter von Bergers sind ebenso irgendwo im Wohnwagen zur Welt gekommen wie Dieter Schuster und seine Schwester, wie Barbara Börner und ihre vier weiblichen Nachkommen. Alle sind sie aus Liebe zu diesem Beruf Schausteller geworden und geblieben, haben andere „Fahrende“ geehelicht und ziehen heute wie die Eltern, die Großeltern oder gar der Urururgroßvater über die Landstraßen.
Schulbildung
In jenen drei Familien, die von mir befragt werden, ist der Nachwuchs übrigens mit guter Bildung und Erziehung groß geworden. Bei Schusters und bei Bergers stehen in den entsprechenden Heften ungezählte Schulen verzeichnet. Hier waren es mal drei Tage, dort acht, wieder woanders drei Wochen Unterricht. So wuchsen sie heran, und ein Zensuren-Durchschnitt von 1,8 bis 2,0 war trotzdem fast die Regel.
Anfragen
In jedem Spätherbst machen Schausteller ihre Verträge für das kommende Jahr, legen damit die Plätze und ihre Tournee fest. Sie bedauern, dass ihnen immer mehr städtische Randzonen zugewiesen werden. Zentren von Städten wären ihnen sympathischer. Nicht immer ist ihnen jedoch die Großstadt etwa lieber als kleine Gemeinden. Die Leute auf dem Land, so meinen sie, freuen sich mehr, wenn das jährliche Volksfest mal Abwechslung bringt. Großstädter seien kulturell zu verwöhnt. Bei der Anlage neuer Plätze könne man ruhig gelegentlich mal Schausteller befragen. Erfahrung kann ja oft von großem Nutzen sein.
Wohnen
„Wohnwagen bleibt Wohnwagen“, erzählt mir Dieter Schuster. Diese Familie reist mit einer „Walzerfahrt“ (Baujahr 1926), einem Kettenkarussell, Schießhalle, Ball- und Ringwerfen sowie einer Kinderschaukel. Ein Küchenwagen – Mutter Hildegard, auch eine „privat Geheiratete“, sorgt fürs leibliche Wohl – sowie ein Sanitärwagen mit Duschen fahren mit. Da versteht man die ungebärdige Sehnsucht nach den bunten rollenden Schausteller-Behausungen schon besser …
Abschrift vom originalen Zeitungsartikel © Margit Ramus
Quellen | Neue Zeit, 31. Januar 1987
|