Schaustellerbranche im Spiegel der Tagespresse A - Z

1982 Leipzig 75 Jahre Leipziger Kleinmesse

Geist mit Praxisschock

Es ist alles nicht so einfach, wie man es sich vom Schreibtisch aus vorstellt. In Sonderheit dann, wenn es sich um so ernsthafte Sachen wie Geisterbahnen handelt. Da kann man tüchtig auf die Nase fallen. Doch jeder muss seine Erfahrungen mit weißen Frauen, schwarzen Männern und was es so alles auf diesem Sektor gibt selbst sammeln. 
Obwohl das jedem vernünftigen Menschen einleuchten müsste, hat eine ganze Reihe von Leuten gedacht, ich sei nun endgültig von allen guten Geistern verlassen, als ich ihnen mit meinem Geisterbahn-Projekt kam.

Dabei ist der Grund für meine Story sehr simpel: 
Auf dem Sängerfest in Finsterwalde war ich furchtsam durch so ein dunkles Zelt gehastet, und dort hatte in einer schummrigen Ecke ein lebendiges Gespenst bedrohlich seine Arme gegen mich erhoben. 
Ohne Flachs, es hat wirklich gelebt! Sowas vergisst man nicht, „prägendes Erlebnis“ sozusagen. Der psychologisch Gebildete weiß, was jetzt kommt: Ich bin losgezogen, um mich auf eigenen Wunsch und eigene Gefahr während der Leipziger Kleinmesse einem Geisterbahn-Unternehmen als dienstbarer Geist anzubieten. Was mir dabei widerfuhr, war ein typischer Praxisschock. 

Ich hatte mir, um meinem künftigen Partner, dem anspruchsvollen Geisterbahn-Befahrer, ein kompetent schrecklicher Partner sein zu können, selbstverständlich gründliche Qualifizierung zur Pflicht erhoben und ventilierte deshalb die grundlegende Frage: „Was ist eine Geisterbahn?“

Wie jedes ordentliche Ding müsste sie irgendwann von irgendwem in ihrer „historischen Determiniertheit“ und „präsentischen Relevanz“ beschrieben worden sein. Also begibt man sich in die Deutsche Bücherei zu Leipzig, dem Hort solchen Wissens, und befragt als erstes deren Kataloge. 
Doch obwohl ich mir schmeicheln möchte, im Umgang mit Wissensspeichern nicht ungeübt zu sein, hüteten sie ihr Geheimnis diesmal eisern vor meinem geistigen Zugriff. 
Ich ziehe also eine Kollegin von der „Auskunft“ in mein Vertrauen. Sie schaut mir tief ins Auge und betont dann rationalistisch, in der Regel gäbe sie zwar, nur Auskünfte über Gesellschaftswissenschaften, aber mein Fall (!), das sei höchst interessant,
„na, wollen mal sehen …“

Um es kurz zu machen: Wir sahen nichts! Weder unter dem Stichwort „Geisterbahn“ noch unter „Jahrmarkt“, „Schausteller“, „Gaukler“, „Zirkus“, „Zigeuner“, „Rummel“ oder „Volksfest“. Nicht einmal unter „Freizeit“ oder „Unterhaltungskunst“ fanden sich Anhaltspunkte, was tief blicken lässt und die Fachkraft für Gesellschaftswissenschaften ungeheuer verblüffte. Merke: Das sollte eine Warnung sein! Ich nahm es nicht zur Kenntnis.

Eines neide ich Alfred Hofmann, Schausteller und Geisterbahn-Betreiber: Er braucht über keinem Katalog zu verzweifeln. Ein Mann wie er weiß mit Geisterbahnen Bescheid.
Die Anlage des heute 50jährigen ließ 1936 sein Schwiegervater Willy Kirchner bauen. Seitdem rollt sie durch die Lande, ein solides Unternehmen. Ob Schwiegervater Willy darum in einem besonderen Verhältnis zu den Geistern gestanden haben muss, lässt sich nicht mehr feststellen. Vor und neben ihm florierten andere Geisterbahnen. Solche Schaustellungen sind so alt wie die Jahrmärkte selbst, die sich an handfesten fiskalischen Interessen orientiert im Gefolge kirchlicher Feste entwickelten. Man braucht eigentlich keine schlauen Bücher, um da einen Zusammenhang zu ahnen. 

Vor der Kasse drängen sich fast immer Leute. Hinterm Schalter sitzt Alfred Hofmanns Schwiegermutter. Erna Kirchner ist fast 80 Jahre, man glaubt es nur zögernd. Vor fünf Jahren chauffierte diese Frau sogar noch ihr Auto selbst.

Oder: Von einem, der auszog, das Fürchten zu lehren . . .

„Ohne Muttern geht’s nicht!“ darin sind sich die Hofmanns einig.

Wer sich bei ihr an der Kasse das Recht auf seinen Schrecken verschafft hat, muss warten, bis ein Wagen frei wird. Alfred Hofmann steht einem mythologischen Wächter ähnlich vor dem Tor zu seiner Unterwelt. Wenn das rote Kontroll-Lämpchen im Totenschädel aufglimmt, betätigt er mit seinem rechten Fuß dezent eine Taste, worauf das Gefährt wie von Geisterhand getragen in den schwarzen Schlund schießt. 
Ich darf mal aus der Schule plaudern: Die Wagen werden über die Führungsschiene am Boden mit Strom versorgt, der einen kleinen Motor unter dem Fahrgast-Sitz speist. Über Kettenantrieb kommt der Wagen ins Rollen. 
Auf etwa 150 Schienenmetern kann man sich schocken lassen, wenn man nicht davon in Anspruch genommen ist, einen furchtsamen weiblichen Weggefährten zu beschützen. Man saust durch die Kurven und löst während des Fahrens Kontakte aus, welche die Geister auf den Plan rufen, Sie blinkern und klappern, kitzeln, leuchten und jaulen bedenklich, dann saust die Geister-Kutsche krachend auf die letzte Flügeltür los, und man findet sich etwas blasser um die Nasenflügel draußen wieder. In der Geisterbahn hat noch keiner seinen Geist aufgegeben.

Die Philosophen beschreiben den Begriff des Geistes als ein von allem Körperlichen durchaus verschiedenes Etwas.
Alfred Hofmann weiß es anders. Seine Geister haben’s in sich. Besonders die Skat-Spieler, eine düstere Gruppe ganz hinten. „Die sind nämlich noch vom Schwiegervater“, sagt der Chef nicht ohne Stolz „massiv Holz, sowas gibt’s heute nicht mehr!“ Also hat auch in der immateriellen Geister-Branche der wissenschaftlich-technische Fortschritt seinen Einzug gehalten. Plaste-Geister lehren das Fürchten und ersetzen zu meinem Schrecken offensichtlich sogar in diesem Gewerbe den Menschen.
Eines möchte ich jedoch herausstellen: Der erfahrene Schausteller demonstriert fabelhaft, was sich mit Farbe und etwas „Geist“ aus dem gespenstischsten Plasteleib machen lässt.

„Immer mal was Neues — dahinein setzt das Familienunternehmen seine Ehre. Außen bunt und farbenfroh, innen schön gruselig.

20 Geister tun regelmäßig ihre Pflicht. Sie werden gelegentlich gegen andere aus dem Fundus ausgetauscht oder durch Neuentwicklungen ergänzt. Als Geister-Neuerer tut sich Junior Lutz hervor, 23 Jahre, Bautischler und Vaters Nachfolger. Seine Mutter ist sehr stolz auf ihn, ebenso auf den Ältesten, der sich selbständig gemacht hat.

Die 260 Quadratmeter große Basis der Bahn besteht aus hölzernen Paletten von zwei Meter mal zwei Meter zwanzig: die Decke eine doppelte Zeltplane, der gespenstischen Dunkelheit wegen: die Wände Holz und Blech.
Zum Abbau brauchen zehn kräftige Männer fünf Stunden. Erst dann kann der Konvoi aus sechs Wagen und zwei Zugmaschinen loszuckeln.

Im Winter bleiben die Hofmanns, Vater, Mutter und Lutz zu Hause in Markkleeberg.
Sie haben dann gerade genug Zeit, um bis zur nächsten Saison die Bahn wieder tipptopp hinzukriegen. “Zu oft wird mutwillig Schaden angerichtet“, erzählt Alfred Hofmann. 
Mir kann keiner weismachen. manche Kunden würden aus Angst im Dunkeln Ihr Taschenmesser aufklappen und nur zufällig die Zeltbahn aufschlitzen.“ Mir stockt als Geist in spé der Atem.

Alfred Hofmann muss gedacht haben, ich will ihn auf den Arm nehmen, als ich mit meinem Dienstleistungsangebot rausrückte. Weil er aber berufsbedingt starke Nerven besitzt, und ich wohl auch ohne Qualifizierung als Geister-Kader glaubhaft wirke, brachte er mir möglichst schonend bei, dass nicht nur das Spuken lebender Personen auf einer Geisterbahn in seinen Augen ideell unmöglich ist, sondern heutzutage aus arbeitsschützerischen sowie hygienischen (1) Gründen nicht statthaft wäre.
Ich musste es unter perfekt geisterhaftem Zähneknirschen akzeptieren — Alfred Hofmann ist Mitglied im Sicherheitsaktiv der Leipziger Kleinmesse.

So endet die Reise von einem, der auszog, das Fürchten zu lehren mit einem Praxisschock. — Wenn ich allerdings ganz sicher wäre, dass Sie es für sich behielten, ich könnte ihnen noch etwas von meinem anschließenden Triumph erzählen …           

©  Moritt Jähnig 4. Mai 1982 DNW/DU S.3

Abschrift vom originalen Zeitungsartikel © Margit Ramus

Zeitungsartikel von Frau Patzer-Schröder

 

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