Schaustellerbranche im Spiegel der Tagespresse A - Z

1981 Wenn plötzlich der Alpenblitz durch das Schlafzimmer fegt

Wie Anlieger mit der Kirmes leben: Ohne Tabletten gibt es keinen Schlaf

Soest. (hs) „Ein Riesenspaß“, dröhnt es alle dreißig Sekunden aus den Lautsprechern des „Rainbow“. Und dann folgt ein Geräusch, das sich kaum schreiben lässt: „Wooorrr“ oder Wauuuu“ oder so ähnlich. Während tatsächlich bei den Kirmesbesuchern in luftiger 24-Meter-Höhe riesiger Spaß aufkommt, haben nur zwei Meter weiter einige Soester „die Nase gestrichen voll“ von „Rainbow“ und „rasanter Fahrt“. Sie wohnen unmittelbar neben dem schwungvollen Karussell im Haus Walburgerstraße Nr. 15 und erleben so die Kirmes hautnah mit – ob sie wollen oder nicht. Und diese Erlebnisse sind nicht immer schön: vollgespuckte Fensterscheiben, zugeparkte Haustüren und Garagen sowie laute Disko-Musik bis weit nach Mitternacht sind die Stichworte. So sehr die Kirmesfans das Nebeneinander von Jahrmarkt und alten Häusern und Kirchen loben, so sehr macht diese gewollte Nachbarschaft den Betroffenen zu schaffen.
Damit keine Missverständnisse aufkommen, sagt eine Familie gleich am Anfang: „Wir haben nichts gegen die Kirmes; sie ist in Soest Tradition und soll es auch bleiben. Wir finden es am gut, dass sich die Kirmes in der Stadt abspielt und nicht auf einem freien Platz am Rand Soests.“

Doch damit hört die Allerheiligenmarkt-Begeisterung auch schon auf. Selbst bei festverschlossenem Fenster können sich die zum Kohlbrink hin wohnenden Familien kaum unterhalten. „Die Musik ist von Jahr zu Jahr lauter geworden“ und habe längst die Grenze des Zumutbaren überschritten. Doch nicht nur die „ewig gleichen“ Disko-Platten mit ihrem monotonen Staccato, sondern vor allem auch die Quietsch-, Sirenen- und Hup-Geräusche, mit denen die Besucher in die Fahrgeschäfte gelockt werden, „gehen auf die Nerven“. Das „Schlimmste“ jedoch, so berichtet eine Familie, seien die ständigen Wiederholer bei den Ansagen: „Jetzt noch einsteigen“ – „wir starten“ – „ein Riesenspaß“ – „och, ist das toll“ – „wollt Ihr noch mehr“.

Am liebsten wollen die Betroffenen gar nichts mehr. „Ohne Schlaftabletten brauchen wir erst gar nicht ins Bett zu gehen“. „Wer denkt schon daran, dass unsereins um fünf Uhr aufstehen muss, um zur Arbeit zu gehen?“ Von der Nacht blieben allenfalls ein oder zwei Stunden. Denn wiederholt hätten Riesenrad oder andere Karussell-Größen in den letzten Jahren über den Zapfenstreich hinaus geträllert. Und wenn dann mit Hilfe des Ordnungsamtes um zwei Uhr die Plattenteller endlich stillstanden, waren es die angeheiterten und besoffenen Spätheimkehrer, die sich „gröhlend“ und „brüllend“ aus dem Kneipenviertel in der Walburgerstrasse verabschiedeten.

Doch für all das haben die Anwohner in der Walburgerstrasse 15 noch Verständnis, auch dafür, dass bis vor zwei Jahren „der Alpenblitz durch Schlafzimmer fegte“ – jedenfalls hatte es bei den Lichterkaskaden den Anschein. Entgegenkommen zeigten die Betroffenen auch noch, als der „Rainbow“ nur fünfzig Zentimeter vor den Hausfenstern vorbeirauschte. Die Leute in der Gondel hätten wir mit Kaffee versorgen können, kommentiert einer ironisch. „Bloß man durfte den Kopf nicht allzu weit hinausstrecken, sonst wäre er ab gewesen“.

Umgeschlagen in bösen Ärger sind die Reaktionen der Anlieger erst, als „wir jeden Morgen 25 Spuckreste von unseren Fenstern wegwischen mussten“. Einige Zeitgenossen im „Rainbow“ hatten sich einen miesen Spaß daraus gemacht, aus dem flink rotierenden Karussell die Glasscheiben zu treffen.
Auch nach dem Ärger, der durch zugeparkte Garagen und Haustüren weitere Nahrung fand, sind die Anliegen noch nicht verbittert. Um wenigstens das Wochenende in Ruhe zu verbringen und nicht schutzlos dem „Soester Ausnahmezustand ausgeliefert“ zu sein, entschloss sich eine Familie schon vor Jahren, das Kirmes-Wochenende auswärts zu verbringen. Zum letzten Mal übrigens, denn im nächsten Jahr herrscht Ruhe auf dem Kohlbrink. C & A machts möglich.

Abschrift vom originalen Zeitungsartikel © Margit Ramus

 

 

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