In der ehemaligen DDR schrieb Ute Krebs im Jahre 1985 einen Bericht über das Leben und Arbeiten der Schausteller jener Zeit. 30 Jahre nach dem Mauerfall ist festzustellen, dass der Inhalt mit wenigen Ausnahmen, grenzübergreifend während eine Mauer die Menschen voneinander trennte, auch das Leben der Schausteller im Westen Deutschlands beschrieben hat.
Viele Aussagen haben heute im Antrag „Die Volksfestkultur und die Kunst der Schausteller“ in die Liste des Immateriellen Kulturerbe aufzunehmen, einen aktuellen Bestand.
Kommentar der Verfasserin © Margit Ramus
Artikel von Ute Krebs in Freie Presse – Heute für Morgen 1985
„Richtige‘ Schausteller werden auf Reisen geboren
Unterwegs auf den Volksfestplätzen zwischen Erzgebirge und Ostseestrand:
Horst Müller und sein Riesenrad
Man sieht ihm die 60er nicht an. Eigentlich beiden nicht. Weder dem Horst Müller noch seinem Riesenrad. Wohl gegenseitig haben sie sich „jung“ erhalten.
„Ich bin Schausteller in der 4. Generation.“ Das ist sehr wichtig, das ist zum Aufschreiben — so klingt dieser Satz. Und Stolz klingt darin mit, auf das Geschaffene, auf die Familientradition.
Geboren wurde Horst Müller in einem Wohnwagen. Das, gehört sich ebenso für einen richtigen Schausteller.
Aufgewachsen ist er auf Reisen, unterwegs auf Jahrmärkten mit Luftschaukel und Kinderkarussell, gebaut vom Urgroßvater, weitergegeben an den Großvater, an Vater und Mutter.
Dann erfüllte sich für seine Eltern ein großer Traum: das Riesenrad. Und so, wie es der Schmiedemeister Alexander aus Chemnitz vor fast sechs Jahrzehnten gebaut hat, dreht es noch heute seine Runden. Immer wieder repariert und modernisiert und aufgemöbelt. Und immer noch so begehrt von Groß und Klein wie am ersten Tag, Was wäre auch ein Volksfest ohne Riesenrad?
„Sehen Sie, diese Überlegung hat mich eigentlich mein ganzes Leben lang begleitet, hat mich beeinflusst in meinen Entscheidungen, hat mich in jedem Jahr Immer wieder quer durch unser Land geführt“, erklärt Horst Müller kategorisch.
Es gab für ihn und den Bruder wohl kein langes Überlegen, das elterliche Geschäft weiterzuführen. Oder besser gesagt: wieder aufzubauen, denn viel hatten Krieg und Bomben nicht übrig gelassen. Aber die Menschen warteten auf Unterhaltung, wollten Entspannung und Frohsinn. Hinter ihnen lag eine bittere Zeit. Vor ihnen aber wieder eine lebenswerte Zukunft.
„Wir Müller-Söhne wollten auf unsere Art dazu beitragen, fröhliche Stunden und Erlebnisse zu schaffen.“
Ich hab‘ ihn nicht gefragt, wie sie es geschafft haben in dieser Zeit, ihr „Geschäft“ wieder in Gang zu bringen. Aber geschafft haben sie es, und einer der ersten Einsätze gehört noch heute zu den schönsten Erinnerungen: Müllers Riesenrad drehte sich für Mädchen und Jungen raus vielen Ländern, die sich 1951 in Berlin zu den III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten trafen.
Fast dreieinhalb Jahrzehnte sind das her, Es waren pralle Jahre für Horst Müller, voller Freuden und Bestätigung in seiner Arbeit, aber auch manche Sorge hat die Haare grauer werden lassen. Nach wie vor ist der Betrieb ein „reines Familienunternehmen-. die Frau, der Bruder, die Schwägerin, die Kinder gehören dazu“.
Jeder von ihnen ist nicht nur Schausteller, sondern Maler, Ökonom, Schlosser, Kraftfahrer, Schmied und Tischler. Es braucht geschickte Hände, Erfindergeist und Köpfchen, solch ein Geschäft am Leben zu erhalten, denn Ersatzteile für ein Riesenrad gibt es kaum im Laden zu kaufen, und an Material ist nicht immer leicht heranzukommen.
Zum anderen auch hatten die Schausteller bisher mit vielen Partnern zu tun, wenn sie Unterstützung brauchten. Das hat ihre Arbeit wahrlich nicht immer vereinfacht.
„In unserem Bezirk steht ein wichtiges Ereignis bevor, in das wir große Hoffnungen setzen. Der Rat des Bezirks hat eingeladen zur Konferenz der Schausteller. Ich verspreche mir einiges davon, auch meine 78 Berufskollegen im Bezirk kommen mit entsprechenden Erwartungen am 6. Februar nach Karl-Marx-Stadt. Wir wollen ins Gespräch kommen, weil wir uns wohl gegenseitig brauchen.“
Das Ins-Gespräch-Kommen schließt vieles ein. Lobende Worte sicher für die 20-jährige Tradition Im Bezirk, die Schausteller zu Lehrgängen einzuladen über Buchhaltung, Planung, Arbeit- und Gesundheitsschutz.
Aber es wird sicher auch die Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Kultur zur Diskussion stehen, die noch effektiver werden könnte zum Nutzen des Gewerbes und der Besucher gleichermaßen. Denn Schausteller sind immer unterwegs, heute in Berlin, morgen in Rostock. An guten Gedanken und Ideen mangelt es nicht, da ist von jeher einiges aus dem Bezirk gekommen. Zumal auch die kollegiale Hilfe untereinander schon manches Problem lösen half.
Horst Müller hat viel zu erzählen. Fotoalben, gefüllt mit Bildern und Zeitungsausschnitten, holt er vor. Er freut sich, über seine Arbeit sprechen zu können, und er hat jetzt mehr Zeit als gewöhnlich. Es ist Winterpause für die Schausteller. Wie in jedem Jahr. In jedem Jahr erneut aber muss er sich an dieses „Zeithaben“ erst gewöhnen. Doch schon nehmen Wartungsarbeiten einen Großteil des Tages wieder ein. Mitte März geht die neue Saison los. Eine kräftezehrende Saison, die von Potsdam nach Neuruppin und nach Brandenburg führt wo er über Pfingsten in Plauen ist, traditionsgemäß die Annaberger Kät im Kalender steht, danach geht es nach Zerbst, ins Mansfeldische nach Hennigsdorf.
Abschluss eines jeden Jahres ist gleichzeitig der Höhepunkt: der Berliner Weihnachtsmarkt. 33 Tage lang. 4,6 Millionen Besucher zählte er im vergangenen Jahr.
„Waren Sie schon einmal im Urlaub?“ Ein wenig verdutzt schaut mich Horst Müller an. Wie sollte er?! Die Saison dauert mehr als zehn Monate, Sonnabend, Sonntag, Feiertag kennt er nicht. Ist Volksfest, dreht sich sein Riesenrad, versuchen die Leute mit seinen Losen ihr Glück.
Wenn nicht, wird bestimmt gerade abgebaut oder aufgebaut, oder er zieht mit seinen Wagen und den zwei Zugmaschinen über die Landstraßen. einem neuen Festplatz entgegen.
„Ich kann nicht wegbleiben. In den Orten warten die Leute auf uns. Verstehen Sie, eine Art Berufsehre ist das, dabei zu sein und den Menschen Freude zu bereiten. Dafür nimmt man manche Entbehrung auf sich“, nachdenklich ist Horst Müller geworden.
60 Millionen Gäste besuchen in unserer Republik jährlich die verschiedenen Volksfeste, Weihnachts- und Jahrmärkte. Und ihre Zahl nimmt zu.
Undenkbar wäre das ohne Leute wie Horst Müller.
„Als fahrendes Volk sind wir vor Jahrzehnten nicht immer als vertrauenswürdig angesehen, ich kenn` das noch aus eigenem Erleben. Doch heute sind wir mit unseren Unternehmungen aus unserer Kulturlandschaft wohl nicht mehr wegzudenken. Wobei wir damit unsere Sorgen haben, denn entgegen der Besucherzahl nimmt die der Schausteller von Jahr zu Jahr ab. Solch ein Leben fordert Tribut, nicht jeder beißt sich durch“.
Aus Horst Müller spricht der Vorsitzende des Bezirksarbeitskreises Schausteller, und gerade auch in dieser Funktion lässt ihm das Problem keine Ruhe.
Und der eigene Nachwuchs? „Natürlich Schausteller, in der fünften Generation“, die Antwort kommt prompt. „Wir sind immer gemeinsam unterwegs, die Gewerbeerlaubnis haben alle meine Kinder in der Tasche.“ Der Vater ist stolz auf seine drei, er kann es nicht verhehlen. Weil eben richtiges „Schaustellerblut“ in ihren Adern fließt.
Von klein auf waren sie mit den Eltern auf Reisen, nur die ersten Schuljahre brachten eine Unterbrechung. Sehr zum Leidwesen der Kinder. Und weil das Bitten kein Ende nahm, ließ sich Vater erweichen. „Eine Bedingung hab‘ ich gestellt: Die schulischen Leistungen durften nicht nachlassen.“ Sie haben ihn nicht enttäuscht. Und das will was heißen, wenn man jährlich in rund 20 verschiedenen Schulen ein- und ausgeht. [1974 Sind Kirmes-Kinder zu beneiden?]
Nehmen wir es als Resümee: Horst Müllers Kinder kennen das Schaustellerleben. Seine schönen und seine schweren Seiten. Sie sind heute selbst als Schausteller in unserer Republik unterwegs. Mit ihren Kindern.
Dem ist nicht viel hinzuzufügen.“ © Ute Krebs
Abschrift vom originalen Zeitungsartikel © Margit Ramus
Quellen | Krebs,Ute: Richtige Schausteller werden auf Reisen geboren. In: Freie Presse – Heute für Morgen, 25.01.1985 S. 5
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