Liebe Newsletterleserinnen und -leser ,
Die Nerven der Schausteller liegen blank!
Verehrte Leser und Leserinnen, ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft!
Spätere Generationen werden ihren Kindern erzählen, wie das so war, damals im Jahre 2020, als man glaubte, die Erde stehe still, und sich monatelang auf der ganzen Welt kein Karussell mehr drehte. Sie werden erzählen, wir ihre Urgroßeltern, Großeltern und Eltern als Schausteller und Schaustellerinnen die Corona-Krise gemeistert haben. Sie trotzten damals allen Problemen, denn sie waren durch ihre Vergangenheit stark. Konnten sie doch auf eine außerordentliche Fülle an Entwicklungen im Schaustellergewerbe zurückschauen.
Die Schaustellerbranche ist im Jahr 2020 bis ins Mark getroffen.
Schausteller und Schaustellerinnen als Träger der Volksfest-Kultur sind gewohnt zu kämpfen. Mit ihrer Hände Arbeit, ohne staatliche Zuschüsse (vor Corona), haben sie ein Kulturgut über Generationen hinweg weiterentwickelt. Mit ihren Erfahrungen in Flexibilität, Mobilität und Improvisationskunst bewältigen sie unzählige Schwierigkeiten. Sie stellen sich auf Naturereignisse ein. Sie meistern Wetterlagen und klimatische Besonderheiten verantwortungsbewusst und zur Sicherheit der Besucher, der eigenen Familien und ihrer Geschäfte. Auch die ersten Monate der Pandemie wurden tapfer geschultert, doch weitere Ausfälle von Volksfesten stellen eine ganze Branche vor das Aus.
Nach dem Verbot aller Volksfeste bis zum 31. Oktober 2020, sind nun die Sorgen um die Weihnachtsmärkte groß. Deshalb sahen viele nur einen Ausweg — nach Berlin zu fahren.
Einigkeit macht stark!
Unzählige Schausteller und Schaustellerinnen machten sich am 2. Juli 2020 mit über 1000 Zugmaschinen, Sprintern und sonstigen Fahrzeugen auf nach Berlin, um für den Fortbestand des Kulturguts Volksfest zu kämpfen.
Die zu Haus gebliebenen Kollegen und Kolleginnen überkam eine Gänsehaut, als sie die vielen Bilder und Videos sahen, die von der großen Kundgebung in Berlin ins Netz gestellt wurden. Ein unendlich langer Zug von Schaustellerfahrzeugen führte über die Straße des 17. Juni zum Brandenburger Tor. Dort hatten sich zahlreiche Redner auf einer Bühne eingefunden. Eine Vielfalt an Vereinsfahnen aus fast allen Bundesländern wurde auf den Platz getragen und säumte die Bühne. Gut organisiert vom Deutschen Schaustellerbund e.V. kurz DSB, und ohne jegliche Zwischenfälle, dank der vorbildlichen Disziplin der vielen Menschen, lief das Geschehen ab. Für alle Beteiligten waren es emotionale Eindrücke. Danke an Albert Ritter und sein gesamtes Team. In der Schaustellerfachpresse, auf Facebook, in unzähligen privaten Videos sowie in internen Schausteller-Chats wurde ausführlich über diesen Tag berichtet. Ein Tag, der das Zusammenhalten der Schausteller und Schaustellerinnen gezeigt hat und in die Geschichte der Volksfestkultur eingehen wird.
Eine zweite Kundgebung fand in der bayrischen Landeshauptstadt München statt. Weitere Veranstaltungen dieser Art sind in vielen Städten Deutschlands in Planung.
Schausteller und Schaustellerinnen haben kein Verständnis mehr dafür, dass fast in allen Branchen Lockerungen erfolgen, nur die Durchführung von traditionellen Volksfesten weiterhin kategorisch verboten ist.
Die deutsche Volksfest-Kultur ist einzigartig
Die Komplexität und Vielschichtigkeit in der deutschen Volksfest-Kultur ist ohne Gleichen. Sie gehört zum öffentlichen Leben dazu. Das weiß auch der bayrische Ministerpräsident Markus Söder, der in seinem Grußwort zur Gründung des Kulturgut Volksfest-Archivs im Jahre 2017 schrieb:
"Volksfeste, Kirchweihen, Dulten, Weihnachts- und Jahrmärkte sind aus unserem kulturellen Leben nicht wegzudenken. Mit Geselligkeit und Gaumenfreuden, Spaß und Nervenkitzel entführen sie die Menschen in eine bunte Welt fernab des Alltags. Gleichzeitig sind die oft Jahrhunderte alten Feste und Märkte auch gelebter Ausdruck unserer Traditionen, unseres Brauchtums und unserer kulturellen Identität. Das Bewusstsein hierfür spielt eine entscheidende Rolle für ein erfolgreiches Miteinander. Diese Grundüberzeugung steht auch im Zentrum der bayerischen Landes- und Heimatpolitik."
Diese Wertschätzung der Volksfest Kultur macht die Schausteller und Schaustellerinnen stolz. Aber mit Wertschätzung allein lassen sich keine Fixkosten bezahlen, keine Kredite bedienen und der gewohnte Lebensstil nicht aufrechterhalten.
Corona gibt die Gelegenheit die Darstellung der eigenen Vergangenheit zu überdenken!
Beim Schreiben des Nachrufs von Rudolf Barth, wurde mir bewusst, welche großartige Leistungen von Schaustellern, meist als Autodidakten, erbracht werden.
Dazu steht im Gegensatz das Klischee vom Fahrenden, das gerne noch gepflegt wird; die 1200 Jahre alte Geschichte, zu deren Beginn die Vorfahren der heutigen Schausteller als „Fahrendes Volk“ die jährlich stattfindenden Märkte (Jahrmärkte) bereicherten. Neben der Anerkennung als Träger eines Kulturguts mit langer Tradition wünschen Schausteller aber auch eine zeitgemäße Einstufung als mittelständische Unternehmer und Unternehmerinnen. Denn Schausteller investieren heute in das Nonplusultra der Ingenieurskunst, der Elektronik, der Lichtinstallationen und schließlich in die kunstvoll gestalteten Dekorationen.
Ohne Zweifel gehört hinter den bunten Fassaden der Volksfeste auch das unternehmerische Risiko seit eh und je zu den elementaren Eigenarten dieses Berufes. Und Risiken haben Schausteller und Schaustellerinnen nie gescheut.
Schon immer war im Frühjahr der Verlauf einer Saison offen. Alle Familien hatten die gleichen Sorgen, ob die Neuzulassung zu einer Veranstaltung erfolgreich sein würde, die Platzierung stimme, das Wetter mitspielen oder sich die Investition rechnen würde? Auch dies macht die Einigkeit aus, die die Menschen im Schaustellergewerbe verbindet und sie nach außen geschlossen auftreten lässt.
Ich möchte in diesem Newsletter ein zweites Zitat aus dem Jahre 1987 einfügen.
"Die Schaustellerfamilien bestehen aus Menschen, die nicht nur alles zu können scheinen, sondern tatsächlich auch alles können, als hätten sie ein Dutzend Berufe mindestens bis zur Meisterprüfung erlernt: Schausteller sind Handwerker, Ausbilder, Erzieher, Buchhalter, Kaufleute, Spediteure, Verhandlungs- und Verwandlungskünstler, Dekorateure, […] sie sind Köche und Versorgungsmeister, Beherbergungsgeber und Reiseexperten, Familienoberhäupter, Arbeitgeber, Seelsorger und was man sonst so alles noch sein kann. Einfach bewundernswert. Sie, die Schausteller, bringen Unmengen von ‚gewusst wie’ mit in eine Stadt, vor allem drei Wesensmerkmale: Flexibilität, Mobilität und Improvisationskunst.“ (Festschrift Herford 1987. S. 151f)
Die Welt der Schausteller zu verstehen ist nicht einfach. Die weite Verzweigung der Familien, die Solidarität unter den Generationen, die gegenseitige Hilfestellung, der Zusammenhalt, aber auch manchmal Neid und Missgunst prägen diesen eigenen Kosmos. Wer auf Kirmesplätzen aufgewachsen ist, bekommt schon in frühen Jahren einen unverblümten Blick auf die Menschen und begreift schnell, welche Geschäfte erfolgreich sind und welche nicht. Das aber mit der Substanz einer großen Lebenserfahrung und Menschenkenntnis.
Ich bin stolz darauf Schaustellerin zu sein. Ich bin aber auch stolz darauf, die Gründerin des ersten deutschen digitalen Kulturgut Volksfest-Archivs zu sein und den Blick von außen auf die Schaustellerbranche gelernt zu haben.
Inzwischen sind nun schon einige Jahre seit der Gründung vergangen und ich freue mich über die erfolgreiche Entwicklung des Archivs. Es wird genutzt als wissenschaftliches Nachschlagewerk für das Kulturgut Volksfest, in dem Dokumente, Bauzeichnungen, Bildmaterial, usw. veröffentlicht werden. Ich hoffe aber auch, Ihnen als Leser und Leserinnen spannenden Einblicke in das Leben der Schaustellerfamilien zu ermöglichen. Zum Beispiel im Kapitel ‚Schaustellerbrache im Spiegel der Tagespresse“, über diesen Link zu erreichen:
https://kulturgut-volksfest.de/enzyklopaedie/kategorie/schaustellerbranche-im-spiegel-der-tagespresse/
Vielleicht schauen Sie einfach mal rein.
Schließlich möchte ich mich für die eingehenden Spenden bedanken. Es wäre wünschenswert, wenn sich die Liste der Förderer des Archivs noch erweitern würde.
Viel Spaß beim Lesen wünscht
Margit Ramus
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