Der Karussellfabrikant Fritz Bothmann beschreibt in seinem Katalog von 1913 ein Karussell, wie wir es heute noch auf der Kirmes oder dem Weihnachtsmarkt antreffen:
Boden-Karussell für Pferde-, Hand- und Kraftbetrieb, die Urtype aller Karussells, heute noch überall beliebt.An den Balken hängt ein Fußboden mittels Eisenstangen, auf diesem Fußboden stehen die Pferde, mit Stützen befestigt, die vordere Reihe mit Stützen und einem Tritt. Die Pferde stehen fest, können aber auch mit einer Vorrichtung versehen werden, entweder zum Selbstschaukeln durch die darauf reitenden Personen, oder zum Auf- und Niederbewegen wie ein galoppierendes Pferd mittels am Dach befindlicher Kurbelmechaniken. Diese Kurbelmechaniken stehen durch Transmissionswellen und Zahnräder mit der inneren Karussellkonstruktion in Verbindung, bewegen sich also während des Karussellbetriebes. Diese Bewegung ist äußerst angenehm für die reitenden Personen und sehr wirkungsvoll für das außenstehende Publikum.[1]
Bewegt werden, sich bewegen, gesehen werden, zuschauen – so lassen sich die primären Funktionen des Karussells zusammenfassen. Ursprünglich ist es ein Übungsgerät, mit dem sich Aristokraten auf ihren sportlichen Einsatz beim „Caroussel“ vorbereiten, einem prunkvollen Reiterschauspiel, das im 17. Jahrhundert zunächst in Frankreich die gefährlichen Turniere ersetzt. Eines dieser Reiterspiele ist das „Jeu de bague“, das Ringstechen, bei dem der Reiter mit einer Lanze seine Geschicklichkeit beweisen muss. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts hat die höfische Gesellschaft Europas den Unterhaltungswert dieses technischen Gerätes entdeckt, auf dem man sich im Garten drehen lässt[2]. Aber auch das einfache Volk hat die Gelegenheit, in öffentlichen Parks und auf dem Jahrmarkt an dieser ursprünglich aristokratischen Lustbarkeit teilzuhaben. Übrigens dreht sich das Karussell in England, anders als auf dem Kontinent, im Uhrzeigersinn, da der englische Karussellfan einen rasanten Galopp wie beim traditionellen Pferderennen oder der Jagd bevorzugt, und daher „richtig“, d.h. mit dem linken Fuß im Steigbügel, aufsitzen will.
Hergestellt wird das Karussell zunächst von Handwerkern, die die Karusselltiere, Kutschen und Schlitten, abhängig von den finanziellen Möglichkeiten des Auftraggebers, selbst fertigen oder von einem Bildhauer schnitzen lassen. Muskelkraft von Mensch oder Pferd treibt das Karussell an; zunächst wird geschoben oder gezogen, dann kommt die Kurbel zum Einsatz.
Als der Jahrmarkt sich im 19. Jahrhundert zum Ort des Vergnügens wandelt, der besonders in den großen Städten der neuen industrialisierten Welt Menschenmassen anzieht, nimmt die Zahl der Schausteller zu. Die Karussells erreichen riesige Ausmaße mit bis zu 200 Plätzen und werden seit etwa 1870 in großer Anzahl in Fabriken unter Einsatz modernster Technik gefertigt.
Das Repertoire der Besatzungsteile wird vor allem durch die neuesten Fortbewegungsmittel mit immer aufregenderen Bewegungsmechanismen erweitert. Pferde, Züge, Segel- und Dampfschiffe, Fahrräder, Autos und Flugobjekte wie Ballons, Zeppeline, Flugzeuge oder Raketen drehen, heben und senken sich, schaukeln, schwanken, führen Stoß-, Hüpf-, Spring-, und Schleuderbewegungen aus in schließlich atemberaubender Geschwindigkeit. Der Antrieb der tonnenschweren Geräte geschieht mit Hilfe der modernsten Energiequellen. Dampfmaschine, Elektrizität und diverse Gas-, Öl- und Benzinmotoren lösen einander ab oder sind, wie in Fritz Bothmanns Katalog nachzulesen, nebeneinander im Angebot.
Hersteller und Schausteller sind bemüht, dem Publikum sämtliche Wünsche und Träume zu erfüllen. Mit Hilfe des Dekors, das den technischen Charakters des Karussells geschickt verschleiert, wird der Abenteurer auf eine Zeitreise in die Vergangenheit geschickt, wo er an den Heldentaten mittelalterlicher Ritter oder am Luxus barocker Fürstenhöfe teilhaben oder auch das verlorene Paradies des Landlebens wiederfinden kann. Weltreisen führen ihn in die fernen Kolonien und später bis ins Weltall. Aber auch Reisen in die imaginären Welten der Märchen und Sagen oder der bei Kindern beliebten Comic-Figuren werden angeboten. Die Zuschauer ergötzen sich am rasenden Spektakel der kreischenden Akteure, der fliegenden Röcke, der glitzernden Spiegel und Lichter, und der bunten Farben von Objekten, Bildern, Perlendekorationen und Zierkanten. Das Gesamtkunstwerk Karussell wird vervollständigt durch die ohrenbetäubende Musik der Kirmesorgel, die die aktuellsten musikalischen Weisen vom Volkslied über Oper und Operette bis zu Jazz und Schlagern (im 20. Jahrhundert) dank immer ausgefeilterer Technik bieten kann. Da den neuen Tonwiedergabegeräten vom Grammophon bis zum CD-Spieler, die das teure und wartungsintensive Orchestrion ablösen, leider die ästhetische Qualität der sorgfältig geschnitzten und bemalten Orgelfassaden fehlt, bleiben sie unsichtbar und das Karussell selbst wird zur „Musikbox“.
Fritz Bothmanns „Urtyp“ gibt es in zwei Ausführungen: für 40 oder 72 Personen mit Pferden und Kutschen aus Holz und Schiffen und Trillergondeln zum Selbstdrehen aus Eisenblech. „Schöne Malereien auf Leinwandrahmen“ verdecken den Mast. Das Stoffdach und die „schön geformte Dachkante aus Eisenblech mit farbenprächtigen Malereien“ machen die Dachbalken von außen unsichtbar. Der Schausteller kann zusätzlich einen Stoffhimmel und Samt- oder Perlenvorhänge bestellen, um die Untersicht der Balkenkonstruktion zu verschönern.
Der Werbetext, der den Käufer über Technik und Dekor des angebotenen Fahrgeschäftes informiert, zeigt die ungeheure Komplexität dieses Vergnügungsgerätes. In der Karussellfabrik sind daher Handwerker verschiedenster Berufe tätig: Zimmerleute, Tischler, Holzbildhauer, Schmiede, Schlosser, Dreher, Sattler, Lackierer, Tapezierer, Dekorateure, Maler usw. Natürlich kann der Fabrikant auch auf Zulieferer zurückgreifen. „Flitter- und Stickereiwaren“ kommen in der Regel aus Nürnberg, Glaswaren aus Böhmen, wasserdichte Stoffe aus Konstanz oder Köln. Antriebsmaschinen[3], Wohn- und Packwagen[4] und, nicht zu vergessen, die Orgeln[5] werden in Fachbetrieben in Auftrag gegeben. Die Fabrikanten und jene Schausteller, die ihr Geschäft nicht unbedingt komplett in einer Fabrik bestellen, sondern selbst zusammenstellen, finden Produzenten entweder in ihrer Umgebung oder über Anzeigen, die in Fachzeitungen für Schausteller erscheinen.
In seinem grundlegenden Buch „Volksbelustigungen“[6] fasst Florian Dering die Ergebnisse seiner Forschungen zu deutschen Herstellerfirmen zusammen, die vor allem auf Informationen aus dem „Komet“ basieren, dem in Pirmasens seit 1883 erscheinenden „Fachblatt für Reisegewerbe und Markthandel“. Seit Erscheinen dieses Buches vor 20 Jahren haben sich zahlreiche Autoren in Europa und Amerika mit diesem Thema beschäftigt, besonders im Hinblick auf einen florierenden Handel mit „antiken“ Karussellteilen. Um diese Objekte der Volks- oder Gebrauchskunst als Kunstwerke in Anlehnung an „offizielle“ Bildhauerkunst aufzuwerten, bemüht man sich, Kriterien für eine Zuordnung zu einer nationalen Produktion oder einem Herstellerbetrieb herauszuarbeiten, was wegen der zumeist fehlenden „Signatur“ in den meisten Fällen unmöglich ist. Im Laufe ihres langen Lebens wurden Karusselltiere von den Schaustellern repariert, überarbeitet oder nachgearbeitet, um die Funktion des Karussells als einem Gewerbebetrieb aufrechterhalten zu können.
Deutsche Karussellfabriken
Im Folgenden sollen einige Karussellfabrikanten aus der frühen Zeit des Karussellbaus vorgestellt werden, die internationale Bedeutung erlangt haben und über die inzwischen genaueren Informationen zusammengetragen worden sind.
Fritz Bothmann (1858-1928)[7] ist zwar nicht der erste, aber wohl der bedeutendste deutsche Karussellfabrikant. Der Schlossermeister gründet 1883 in Gotha eine Maschinenbaufirma, stellt im gleichen Jahr sein erstes „Schiffs-Caroussel“ mit Dampfmaschine beim „Vogelschießen“ in Erfurt auf und setzt bereits ein Jahr später eine Werbeanzeige in den „Komet“. Großer Erfolg macht bald eine Erweiterung des Betriebes notwendig und Ende der 80er Jahre fertigen etwa hundert Arbeitskräfte Karussells, Schaukeln und andere neu entwickelte Fahrgeschäfte sowie Pack- und Wohnwagen und Dampflokomobile. Pro Jahr verlassen an die fünfzig Karussells, deren Herstellungsdauer zwei bis zehn Wochen dauert, die Fabrik.
Ab 1887 meldet Fritz Bothmann Patente für die Neuentwicklungen seiner „Carousselfabrik“ an. Im gleichen Jahr beginnt er, systematisch den französischen Markt zu erobern, indem er zunächst im französischen Fachblatt „Le Voyageur Forain“ inseriert, das, wie der „Komet“, seit 1883 erscheint. Als er zur Weltausstellung 1889 mit beweglichen Karussellpferden in Paris erscheint, meldet er bei der zuständigen französischen Behörde ein Patent für den Schaukelmechanismus der Pferde an. Damit stellt er sicher, dass nur er selbst die Nutzungsrechte seiner Erfindung in anderen Ländern innerhalb der folgenden zwölf Monate beantragen kann, da die meisten Industrienationen inzwischen der 1883 gegründeten Union zum Schutz des gewerblichen Eigentums beigetreten sind, bis auf Deutschland, das erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts diesen Schritt macht.
Das Exportgeschäft macht auch in Zukunft bei Bothmann einen wichtigen Teil des Firmenumsatzes aus. Die Erzeugnisse gehen in europäische Länder, nach Nord- und Südamerika, Afrika und Australien.
1892 gewinnt Bothmann den Kaufmann Louis Glück als Investor für eine bedeutende Erweiterung des Betriebes, der 1898 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wird. Karussells, Wohn- und Packwagen, aber dann auch Eisenbahnwaggons und Straßenbahnwagen können in immer kürzerer Zeit von der 200 Personen umfassenden Belegschaft geliefert werden. Aus unbekannten Gründen trennt sich Bothmann 1903 von der Firma und eröffnet mit Unterstützung seiner Ehefrau einen neuen Betrieb, der schließlich im Stamm- und Zweigwerk wieder 350 Personen beschäftigt. Dem erfolgreichen Unternehmer verleiht der Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha 1912 den Titel „Kommerzienrat“.
Obwohl Vertretungen im Ausland zunächst noch zu einer stabilen Auftragslage beitragen, führen Konjunkturschwierigkeiten und der Zusammenschluss von zahlreichen Waggonbaufirmen zu einer Gesellschaft mit quasi Monopolstellung in den zwanziger Jahren zum Konkurs der Firma. Der Sohn muss als Inhaber die Firma 1931 auflösen.
Ende des 19. Jahrhunderts bildet Thüringen eines der großen Zentren des Karussellbaus. Die hier angesiedelte Holz- und Metallverarbeitung liefert zusammen mit dem Bau der Eisenbahnlinien die grundlegenden Voraussetzungen für den neuen Produktionszweig. Zudem erwartet die anwachsende Arbeiterschaft der aufstrebenden Industriezentren Thüringens und Sachsens von den Schaustellern auf Volksfesten ein immer neues Angebot von Freizeitvergnügen verschiedenster Art.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass hier die älteste deutsche Karussellfabrik im Jahre 1870 gegründet wird. Friedrich Heyns[8] Betrieb stellt Karussellpferde in Molbitz bei Neustadt an der Orla her und hat bereits 1884 30 Angestellte, die in diesem Jahr das tausendste Stück ausliefern. Die Nachfrage ist so groß, dass Heyn zusammen mit seinem Sohn, einem begabten Bildhauer, um 1890 eine moderne Fabrik mit Dampfmaschine statt Wasserkraft im benachbarten Neustadt eröffnet. Briefkopf und Werbeplakate in Deutsch, Englisch und Französisch belegen, dass Heyns Produkte inzwischen nicht nur im Inland, wo sie auf zahlreichen Gewerbeausstellungen gezeigt werden, sondern auch im Ausland gefragt sind. Im „Voyageur Forain“ von 1887 inseriert Heyn gleichzeitig mit Bothmann und Carl Müller, einem ehemaligen Mitarbeiter, der um 1884 in der Fabrikhalle in Molbitz eigene Karusselltiere und Karussells bis 1914 herstellt. Ein französischer Vertreter macht ab 1897 regelmäßig im „Bottin“, den französischen „Gelben Seiten“, Werbung für Heyns Produkte. Als Heyn 1908 in den Ruhestand geht, übergibt er einen Betrieb von 60 bis 100 Mitarbeitern, der für seine qualitätvolle Arbeit berühmt ist. Seine Nachfolger Richard Keime und dessen Schwiegersohn Arno Ebert, der den Betrieb bis zu seiner Schließung im Jahre 1959 weiterführt, vertrauen auf das Können des Bildhauers Paul Albert Zimmermann (1880-1968), der dafür sorgt, dass die künstlerischen Vorgaben der Karussellfigurenproduktion Heyns weiterleben.
Karussellpferde und –figuren kann man ab 1889 in Neustadt auch bei Carl Schulze bestellen, der dritten größeren Fabrik, die nach wirtschaftlichen Schwierigkeiten 1910 von Albin Hitzig übernommen und in den zwanziger Jahren in die Nähe von Leipzig verlegt wird und aus der 1930 auch die Firma Neustädter Karussell Industrie hervorgeht. Schulzes Teilhaber ist ab 1898 Alfred Poeppig, der sich 1902 selbständig macht. Als dieser 1909 Konkurs anmelden muss, übernimmt Joseph Hübner, ein ehemaliger Mitarbeiter, den Betrieb bis zur endgültigen Schließung im Jahre 1925. Die Karussellfiguren dieser Firma finden ebenfalls im Ausland ihre Käufer. Im Musée d’Art Forain in Paris erfreuen einige von ihnen zusammen mit Pferden von Limonaire Frères die Besucher.
Über die Grenzen hinaus bekannt wird auch Hugo Haase (1857-1933)[9], der nach seiner Schlosserlehre in Hamburg in der Maschinenbaufirma Hövermann & Jürgens, die seit 1884 Dampfkarussells baut, zum Firmenleiter avanciert. Für W.F. Stuhr, Schausteller und Karussellfabrikant in St. Pauli, baut Haase ein Dampfkarussell und begleitet es zur technischen Überwachung auf Reisen. 1887 eröffnet er in Roßla im Harz seine eigene Firma.
Dampfschiffskarussells sind neben den „klassischen“ Karussells zu dieser Zeit wohl ein großer Publikumserfolg. Stuhr errichtet bereits im Jahre 1881 auf dem „Bremer Freimarkt“ ein pferdebetriebenes Schiffskarussell nach dem Patent des englischen Herstellers Frederick Savage von 1880. Als Schaustellerunternehmer schickt er um 1890 etwa achtzehn Fahrgeschäfte auf Reisen und beschäftigt bis zu 100 Arbeiter in seiner Fabrik, neben der er einen Vergnügungspark als Musterausstellung betreibt. Nach familiären und geschäftlichen Niederlagen nimmt dieser einst so rührige Unternehmer sich 1904 das Leben.
Ein Dampfkarussell der Firma Stuhr auf der Essener Kirmes von 1884 ist der Anlass für den Fischhändler Franz Siebold sich ins Karussellgeschäft zu stürzen. Er baut das Fahrgeschäft nach, aber mit wenig Erfolg. Daraufhin fährt er nach England zu Savage und kauft dort ein Dampfschiffskarussell, das er den Essenern 1885 vorstellt. 1888 erwerben Siebold und sein Teilhaber Hotto die Hamburger Firma Hövermann & Jürgens, die Haase ein Jahr zuvor verlassen hat. Unter Beibehaltung enger Geschäftskontakte nach England stellt die Firma Siebold & Hotto bis 1914 Fahrgeschäfte her. Der Sohn Friedrich Wilhelm Siebold, den der Vater nach dem Ingenieurstudium nach Paris, London und Amerika schickt, um Sprachen zu erlernen und Geschäftskontakte zu knüpfen, steigt von Bremen aus sogar ins brandneue Kinogeschäft ein und schickt 1905 ein riesiges Wanderkino auf Reisen. 1957 muss das Familienunternehmen schließen.
Wie Stuhr und Siebold betätigt sich auch Hugo Haase, der eine Schaustellertochter heiratet, als Fabrikant und als Schaustellerunternehmer. Er kommt mit den neuesten Fahrgeschäften auf den Markt im zeitlichen Wettlauf mit Stuhr und Bothmann. So erscheint die „Berg- und Talbahn“, zu deren Verbesserung Savage 1888 ein Patent bekam, 1890 bei den deutschen Herstellern gleichzeitig. Als er im Zuge der Diskussionen um die Explosionsgefahr der Dampfmaschinen 1892 zwei Fahrgeschäfte elektrisch betreibt, indem er in einer 300m entfernten Kraftstation seinen Strom selbst produziert und zudem diese relativ junge Technik im Maschinenraum zur Schau stellt, ist ihm der Erfolg beim begeisterten Publikum sicher. Das „Trottoir roulant“, das auf der Weltausstellung in Chicago 1893 erstmalig auf drei parallelen Bahnen in unterschiedlicher Geschwindigkeit die Gäste transportiert, ist die Vorlage für die Stufenbahn, die Haase ab 1895 baut. Nach 1900 baut er sie in Form von Karussellpalästen, deren aufwändige Fassade den Besucher einlädt, durch die Türen rechts und links der Kasse ins Innere zu treten. Gastronomie und musikalische Untermalung durch eine prachtvolle Orgel laden zum Verweilen ein. Der „Palais des Illusions“ der Weltausstellung von 1900[10], ein Wunderwerk aus Glas, Spiegeln und elektrischem Licht, wird von Haase 1901 als „Juwelen Palast“ auf die große Reise durch Europa geschickt. Haases Geschäfte drehen sich in Frankreich, Österreich, Italien, Belgien, Holland, Dänemark und der Schweiz, sowie in Nord- und Südamerika. Zwei seiner Bahnen sind heute noch in Amerika und Japan zu bewundern.
Der ‚Karussellkönig’, wie Haase genannt wird, organisiert seit 1912 die Vergnügungsparks verschiedener Großereignisse wie der Weltausstellung von 1930 in Antwerpen. Seinen ersten eigenen stationären Vergnügungspark in Hamburg gründet er 1914 in einer wirtschaftlich ungünstigen Zeit. Nach 1945 verlegt die Familie das Werk von Roßla nach Uelzen näher an den Wohnort Hannover und führt den Betrieb bis 1967 weiter.
Der eigene stationäre Vergnügungspark als Musterausstellung ist auch das Erfolgsrezept der letzten alten, international erfolgreichen Firma, die hier genannt werden soll. Die 1791 gegründete Wagenbaufirma Mack[11] baut ab 1884 für Schausteller Reise-, Wohn- und Orgelwagen in Waldkirch im Breisgau, dem größten deutschen Orgelbauzentrum der damaligen Zeit. Seit den zwanziger Jahren erweitern Fahrgeschäfte die Produktpalette der Firma, die heute den Europa-Park bei Rust betreibt.
Der europäische Markt
Deutsche Karussellfabrikanten spielen eine wichtige Rolle auf dem europäischen Markt. Sie beliefern französische Schausteller, die sich im eigenen Land nur über kleine Werkstätten und wenige Großbetriebe versorgen können. Der berühmteste Fabrikant ist Gustave Bayol (1859-1931)[12], ein Kunstschreiner und Bildhauer, der sich 1885 in Angers niederlässt und 1887 das Karussellgeschäft für sich entdeckt, als Heyn und Bothmann bereits im „Voyageur Forain“ Werbung machen. Er entwirft Karussells, die von den deutschen Importmodellen abweiche. Neben Pferden und den üblichen barocken Kutschen und Gondeln sind es besonders Kühe, Stiere, Schweine, Katzen, Hasen und andere Haus- und Nutztiere, die den Reiter in rasender Fahrt entführen. Nach 1910 führen seine Nachfolger Coquereau & Maréchal und danach Barassé die Firma bis 1939 weiter.
Die zweite große Firma ist die 1886 gegründete Pariser Orgelbaufirma Limonaire Frères[13], deren Name heute in Frankreich als Vokabel für mechanische Orgeln verwendet wird. Karussells stellt die Firma seit 1894 her, drei Jahre später verkauft sie Schießstände und erweitert das Angebot kontinuierlich immer mit Blick auf die deutsche Konkurrenz auf dem französischen Markt. Nach 1906 versucht die Firma Limonaire Frères mit einem Zweigwerk für Orgelbau in Waldkirch auch im deutschsprachigen Raum Fuß zu fassen. Vermutlich stammt das „Manège Parisien“, das sich nach der Jahrhundertwende im Wiener Prater dreht, von Limonaire. Nach der Umwandlung der Firma 1920 in eine Aktiengesellschaft muss sie 1929 Konkurs anmelden und wird von einer Gesellschaft übernommen, die 1936 den Betrieb endgültig schließen muss.
Der Belgier Alexandre Devos aus Gent, ein auf Heiligenfiguren spezialisierter Bildhauer, verkauft Fassaden und Karussellzubehör vor allem in Belgien, Holland und Frankreich. Maurice, sein älterer Sohn, führt den Betrieb nach seinem Tod 1917 bis zum Zweiten Weltkrieg weiter, während der jüngere Sohn Henri (1888-1979)[14] 1914 nach Frankreich geht und zunächst als Schreiner arbeitet. 1923 wendet er sich wieder der Jahrmarktskunst zu, als ihm die Nachfolger von Bayol in Angers einen verantwortungsvollen Posten anbieten. 1925 eröffnet er seine eigene Firma in Angers und wirbt bereits1926 im „Komet“ für seine Fahrgeschäfte. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlegt er den Betrieb in die Nähe von Paris, wo finanzielle Probleme 1960 zur Schließung führen. 1963 zieht der 75jährige nach Neuhausen-Deggendorf, wo seit dem Ende der fünfziger Jahre Fahrgeschäfte von der Firma Zierer gebaut werden. Acht Jahre lang gibt er seine Erfahrungen weiter, bevor er nach Paris zurückkehrt und dort mit 91 Jahren nach einem langen Arbeitsleben stirbt.
Während deutsche Karussellbaufirmen eifrig nach Amerika exportieren, bietet der nach Amerika ausgewanderte Gustav Dentzel[15] aus Bad Kreuznach seine Karussells von 1890 bis 1904 im „Komet“ an. Nach eigenen Angaben hat er seine Karussellbaufirma 1867 gegründet. Man nimmt an, dass der damals Neunzehnjährige in diesem Jahr sein erstes Karussell baut[16]. Bis zu seinem Tode im Jahre 1909 leitet er das blühende Unternehmen, das eines der ältesten und erfolgreichsten in Amerika ist. Zwanzig Jahre später, nach dem Tod seines Sohnes William, wird die Firma, die schwer unter der allgemeinen Wirtschaftskrise leidet, an die Philadelphia Toboggan Company verkauft[17].
Die engen Kontakte, die der Engländer Frederick Savage (1828-1897)[18] zu den europäischen Schaustellern und Fabrikanten unterhält, wurden bereits erwähnt. Er gründet zu Beginn der fünfziger Jahre eine Maschinenbaufirma in King’s Lynn, wo er zunächst Landwirtschaftsmaschinen entwickelt und baut. Bereits um 1860 hat er Kontakte zu Schaustellern und baut gegen Ende des Jahrzehnts dampfbetriebene Karussells, die berühmten Fahrradkarussells und 1880 Schiffskarussells nach eigenem Patent mit Pferde- oder Dampfantrieb. Bereits 1888 inseriert er mit Erfolg im „Komet“; denn 1891 lässt sich der bekannte Schaustellerunternehmer Opitz eine Dampfmaschine zur Erzeugung von elektrischem Licht bauen. Opitz und Siebold erscheinen neben weiteren Namen europäischer Schaustellerunternehmer regelmäßig in den Bestelllisten[19]. Savage reicht seine Patentanträge auch bei den Ämtern auf dem Kontinent ein. Da die Auftragslage die Produktionskapazität einzelner Unternehmensabteilungen übersteigt, tragen die Karussells, die seine Fabrik verlassen, zum Teil Figuren, die in anderen englischen Spezialwerkstätten und sogar in Deutschland z.B. bei Heyn gefertigt werden. Auch auf dem europäischen Kontinent bestellen Schausteller häufig die Technik bei Savage und das Dekor bei heimischen Herstellern. 1973 wird die Firma, die einst bis zu 400 Arbeiter beschäftigte, geschlossen. Das Museum in King’s Lynn hat eine Abteilung diesem wichtigen Kapitel der Stadt- und Technikgeschichte gewidmet.
Dieser Ausschnitt aus der Geschichte der Herstellerfirmen zeigt, dass Karussellbau ein Kapitel europäischer Technikgeschichte ist. Auf der Suche nach den neuesten Sensationen, die die Grundlage für ein florierendes Geschäft dieser Form von Spiel mit Technik bilden, müssen nicht nur die Grenzen des bisher Bekannten im Bereich des technischen Wissens der Konstrukteure oder der physischen Erfahrungen des Publikums überschritten werden, sondern auch politische Grenzen. Mit Fahrgeschäften, deren Entwicklung und Konstruktion sich auf den internationalen Austausch von Material, Wissen und Personal stützen, bereisen auch heute, wie bereits vor mehr als 100 Jahren, Schausteller Europa, um auf Volksfesten und in Vergnügungsparks das Publikum aus der Alltagswelt zu entführen.
Fahrgeschäfte weltweit
Zu den modernen Fahrgeschäften des 21. Jahrhunderts gehören Klassiker wie das Riesenrad, der Wellenflieger und der Skooter. Andere Typen haben nicht nur ihre Bezeichnung geändert. So bieten Twister, Freefall, Racer oder Coaster dem Publikum Erfahrungen, die denen, die ihm einst auf Karussells, Achterbahnen und Schaukeln ermöglicht wurden, nur noch entfernt ähneln. Hochmoderne Technik und ein weltweiter Markt erfordern eine einheitliche Terminologie. Neben lokalen Herstellern, die häufig auf Maschinenbau spezialisiert sind und eigene Entwicklungen oder Konstruktionen nach auswärtigen Patenten anbieten, arbeiten große Firmen heute weltweit. Manche spezialisieren sich wie Barbieri aus Italien auf Nostalgie-Karussells aus Polyester, Reverchon aus Frankreich auf Skooter oder Bollinger & Mabillard aus der Schweiz auf Coaster. Andere bieten eine breite Palette von Produkten, die immer wieder weiterentwickelt oder durch Neuigkeiten ersetzt werden.
Das Internet und internationale Messen sind die Schaufenster, die Schaustellern und Parkbetreibern das aktuelle weltweite Angebot erschließen. Teilweise unter Dachgesellschaften vermarkten Hersteller aus Europa ihre Produkte in der ganzen Welt. Fahrgeschäfte erfahrener deutscher Firmen, die Ingenieure aus hochspezialisierten Bereichen wie der Raumfahrttechnik[20] beschäftigen, sind in Vergnügungsparks und auf Jahrmärkten Europas, Amerikas, Afrikas, Australiens und Asiens zu finden. Manchmal kombinieren Orte des Vergnügens in die Zukunft weisende Konstruktionen moderner „Traditionsbetriebe“, wie z.B. Huss aus Bremen, Mack aus Waldkirch, Maurer Söhne aus München, Schwarzkopf aus Münsterhausen oder Zierer aus Deggendorf, mit Kreationen aus vergangenen Tagen, wie Bothmanns „Boden-Karussell für Pferde-, Hand- und Kraftbetrieb“.
Quellen | [1] F. Bothmann, Karussell-Fabrik. Katalog 1913, Gotha 1913. Nachdruck in: M. Schöler, Fritz Bothmann. Caroussell- Waggon- und Maschinenfabrik Gotha, Teil 3, Schriftenreihe des URANIA Kultur- und Bildungsvereins Gotha e.V. zur Firmengeschichte der Stadt Gotha, Heft 12, Gotha 2000. S. 12. |
Sagt Ihnen der Name Karl Wilhelm Ferdinand Kirschen etwas?
In einer Ortschronik vom Dorf Grumbach bei Wilsdruff habe ich gelesen, dass dieser Kirschen dort eine Werkstatt für Karussellpferde hatte und diese weltweit verkaufte
Nach Dresden Wien Brüssel Paris und bis nach New York
Er stellte auf der Leipziger Messe aus
Er ist etwa 1830 in Neuhausen im Erzgebirge geboren und 1850 nach Grumbach gezogen
Er hatte großes Talent und wurde vom sächsischen König Friedrich August II. gefördert
Seine Werkstatt muss zwischen 1860 und 1890 existiert haben
Sein Nachfolger wurde August Winkler
Hallo….such nach dem deutschen Hersteller des Grand Carousel aus dem Libertyland in Memphis Tennessee USA.Habe eine Postkarte mit dem abgebildeten Carousel mit dem Vermerk: Built in Germany 1923. Pferde handgeschnitzt.
Hallo Herr Schonauer, senden sie mir bitte ein Foto der Postkarte per Email. Vielleicht kann ich das Karussell dem deutschen Hersteller zuordnen. Aufgrund des Baujahrs und des Namens könnte es von Hugo Haase oder Fritz Bothmann gebaut worden sein. Für eine konkrete Antwort brauche ich jedoch eine Abbildung.
Freundliche Grüße Margit Ramus