Glückmomente
Die Versteigerung der Sammlung Marchal am 28. und 29. September bei Cornette de Saint-Cyr im Drouot in Paris wirft ein Licht auf die vielerorts den Vergnügungsparks gewichene Welt der klassischen Jahrmärkte.
Fabienne und Francois Marchal liebten den Jahrmarkt und trugen zusammen, was sie aus der Schaubuden-Welt auftreiben konnten.
Jetzt wird ihre Sammlung in Paris versteigert
Mit einem Karussellpferd fing es an. Auf einem Flohmarkt kauften Fabienne und Francois Marchal ein kleines bemaltes Holzpferd zur Dekoration ihrer Wohnung. Sie ahnten nicht, dass sich daraus ein Jahrzehnt währende Sammel- und Forschungsleidenschaft entwickeln würde. Die Suche nach Zeugnissen der Kirmeskunst – vor allem Karussellfiguren, aber auch Schaubudendekors, Skulpturen, Glücksspielräder oder Wahrsagerautomaten – führte das französische Ehepaar durch ganz Europa. Insbesondere in Frankreich, Deutschland, Belgien und Großbritannien wurden sie fündig.
Anhand ihrer Entdeckungen, die sie zum Teil eigenhändig restaurierten, lässt sich die Geschichte der europäischen Jahrmarkt Kunst des ausklingenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts dokumentieren.
Recherchen in Archiven und Herstellerkatalogen lieferten ebenso wie alte Postkarten Hinweise über ein noch wenig erforschtes Gebiet. Als sie vor vierzig Jahren ihre Sammlung begannen, interessierte sich die Öffentlichkeit kaum für die Überreste vergangener Volksfeste. Viele Karussells der Belle Époque wurden zerstört und die Figuren zu Brennholz verarbeitet. Die Recherchen von Fabienne und Francois Marchal mündeten 2002 in der Veröffentlichung eines Buchs über Karussellfiguren: „L’art forain – Les animaux de manège“.
Die Versteigerung der Sammlung Marchal am 28. und 29. September bei Cornette de Saint-Cyr im Drouot in Paris wirft ein Licht auf die vielerorts den Vergnügungsparks gewichene Welt der klassischen Jahrmärkte.
Der hervorragend bebilderte und dokumentierte Katalog mit 645 Losnummern – die Objekte umfassen die Zeit von etwa 1850 bis 1960 – weckt beim Betrachter unweigerlich Erinnerungen an die Glückmomente der Kindheit auf dem Rücken eines schwebenden Holzpferdchens.
Die Sammlung, die vom 23. bis 26. September in ihrer gesamten Fülle auf dem Messegelände an der Porte de Versailles zu sehen ist, wird auf zwei Millionen Euro geschätzt.
Zu den frühesten Zeugnissen der Kirmeskunst zählen ein Paar schlicht bemalte Holzpferde aus der Zeit Napoleons III., die noch von einem „Ringspiel“, dem Vorläufer des heutigen Karussells, entstammen (Taxe 1500/2000 Euro) sowie eine um 1870 in Deutschland hergestellte Löwenfigur anonymer Faktur (1000/1200).
Die Sammlung zeichnet sich durch zahlreiche Skulpturen von Künstlern aus, die in ihrem Fach zu Rang und Namen gelangten:
Dazu gehört Gustave Bayol, der an der Kunstakademie von Avignon ausgebildete Bildhauer und Begründer der „Schule von Angers“ im späten 19. Jahrhundert. Er spezialisierte sich auf Pferde und Tiere des Bauernhofs. Seine große, kess die Zunge herausstreckende Kuh „Lola“ mit vergoldeten Messinghörnern ist ein Einzelstück von 1898, das einst zum dampfbetriebenen „Grand Manège des Vaches à vapeur“ gehörte. „Lola“, auf 12 000 bis 15 000 Euro geschätzt, könnte zu den Höhepunkten des Abends zählen.
Joseph Hübner, einer der großen deutschen Bildhauer von Karussellfiguren, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen mit Alfred Poeppig in Neustadt an der Orla eine renommierte Karussellfabrik führte, ist mit einem „Großen Schaf“ (4000/5000) präsent.
Zur Offerte gehören außerdem ein reichdekoriertes „Großes Springpferd mit Doppelsattel“ vom Briten Charles John Spooner aus der Werkstatt in Burton-upon-Trent (um 1895, 6000/8000 Euro) und eine mit rotem Samt ausgeschlagene „Venezianische Gondel“ von Coquereau & Marechal von zirka 1910 (5000/6000).
Viele Tierfiguren schmückten die Karussellmenagerie: Eisbären und Elefanten, beispielsweise von Carl Albin Hitzig aus der Zeit um 1930 (2500/3000) oder Kängurus, wie das niedliche Exemplar mit dem Kleinen, das aus dem Beutel schaut, von Henri & Jacques Mathieu aus der Mitte des 20. Jahrhunderts (6000/8000).
„Die Kirmeskunst schöpft aus der Vergangenheit, spiegelt die Gegenwart wider und verkündet die Zukunft“,
schreibt Francois Marchal in der Einführung zum Katalog. Die Schausteller nutzten den technischen Fortschritt, um das Publikum für ihre Attraktionen zu begeistern.
In den Jahrzehnten um 1900, als die handwerkliche Herstellung von Jahrmarktszubehör in eine schon teilweise industrielle Fertigung überging, erlebten die Jahrmärkte ihren Höhepunkt.
Die Monumentalskulpturen des Belgiers Alexandre Devos zeugen von der einstigen Pracht. Zwei geflügelte, Blumenkränze tragende Frauenfiguren standen als „Renommée“ am Eingang der Raupe „Les Vagues de l’Océan“ (je 30000/40000); Devos‘ drachentötender „heiliger Georg“ zierte einst die Prunkfassade eines „Karussell-Salons“ in Rotterdam (gleiche Taxe).
Nicht nur Vergnügen, auch Aufklärung in medizinischen Dingen war auf Jahrmärkten gefragt. Die „Collection Cabinet Réservé (pour adultes)“ vermittelte anhand in Wachs nachgebildeter anatomischer, angemessen schauriger Beispiele die Folgen syphilitischer Erkrankungen bei Mann und Frau (4000/5000).
Zum Abreagieren gab es Schießbudenfiguren wie die vierzig bemalten Holzköpfe der „Bande à Hitler“, die um 1946 in Frankreich aufgestellt wurden: „Adolf“ befindet sich mit Mussolini und Pétain in angemessener Gesellschaft (10000/12000).
Als teuerstes Los mit einer Erwartung von 30000 bis 50000 Euro kommen die 1934 von Jacques Barasse hergestellten Figuren der Wurfbude „Bouffe-balles du Music-Hall“ zum Aufruf.
Ziel des Spiels war es, den Karikaturen von Josephine Baker, Maurice Chevalier oder Charlie Chaplin einen Ball in den Mund zu werfen – bei fünf Treffern, so die Regel, gab es eine Flasche Wein.
Wer sich seines Glücks nicht sicher fühlte, konnte bei „Professor Kheudj’Shi“ Trost suchen. Gegen ein Geldstück begann der bärtige Mann aus Wachs, seinen Kopf, die Augen, die Arme und die Lippen zu bewegen. Die Weissagung des Horoskop Automaten (15000/20000) erfolgte schriftlich und „vertraulich“. Professor Kheudj’Shi ist auch heute noch absolut verschwiegen.
© Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 18. September 2011
Abschrift vom originalen Zeitungsartikel © Margit Ramus