Schaustellerbranche im Spiegel der Tagespresse A - Z

1977 Mit sechzig Sachen um die Kurve

Viele der Beschicker der Kirmes in Bad Neuenahr sind „seit ewigen Zeiten“ dabei. Sachlich beschreibt Wolfgang Pechthold die Ankunft der Schaustellergeschäfte zur alljährlich am 1. Sonntag im Oktober stattfindenden Kirmes.
1977 kommt der Alpenblitz der Familie Josef Schoeneseifen mit der Bundesbahn nach Neuenahr.
Der Beitrag zeugt von intensiver Recherche des Verfassers, nur die Provenienz stimmt nicht ganz.
„Nur dreimal für die Bundesrepublik gebaut. Einmal für Moskau. Einmal in die USA geliefert. [einmal] Für das Brühler Phantasialand bestellt.“
Tatsächlich wurden nur drei Anlagen gebaut.
Am 8. November 1975 bekam Rudi Robrahn seinen ersten Alpenblitz zum Hamburger DOM.
Im darauffolgenden Jahr, zu Karneval in Köln 1976 (26.02.1096 Premiere) bekam Josef Schoeneseifen (Vater der Verfasserin) den zweiten und zum Staufenplatz in Düsseldorf wurde der Alpenblitz Nr. 3 an Oscar Bruch ausgeliefert.
Technische Störungen, die durch 3000 Umdrehungen pro Minute laufenden sich erhitzenden Rollen entstanden, konnten auch an der dritten Anlage nicht behoben werden. 

Wolfgang Pechthold belegt unbewusst mit der Firmengeschichte der Familie Richard Kociok aus Rüdesheim, wieder einmal ein Beispiel zum Quereinstieg in das Schaustellergewerbe.
Richard Kociok war Polizist als er seine Frau kennen lernte. Schwiegervater und Schwager waren gelernte Metzger und hatten einst vor den Augen der Kirmesbesucher halbe Schweine verarbeitet und verwurstet. 1952 baute Richard Kociok seinen ersten und später seinen zweiten Imbiss-Pavillon in Eigenleistung.
Kommentar der Verfasserin © Margit Ramus 

 
Artikel von Wolfgang Pechthold in der Ahr-Eifel Ausgabe 228 vom 1/2.10.1977 

Millionen-Ding Alpenblitz und rollendes Restaurant auf Neuenahrs Kirmes.
Die Kirmes kommt!
Sie kommt mit superlangen Wohnmobilen oder bescheidenen Caravans. Mit super schweren Sattelschleppern oder klapprigen Zugmaschinen. Vertraute Bilder!

Ausnahmsweise aber kommt sie auch per Sonderzug der Deutschen Bundesbahn angerollt. Wie diesmal in Bad Neuenahr. Ladung der sechzehn Waggons: der „Alpenblitz“. Das Nonplusultra unter den Fahrgeschäften. Nur dreimal für die Bundesrepublik gebaut. Einmal für Moskau. Einmal in die USA geliefert Für das Brühler Phantasialand bestellt. Ende.

„Das ist schon was“, bewertet Josef Schoeneseifen (59) sein Fahrgeschäft. Richard Kociok (52), Inhaber des rollenden Büfetts gegenüber, sagt es deutlicher: „Ein Mordsding. Absolute Spitze!“

Das gilt schon für die Abmessungen, die Schoeneseifen – natürlich – auswendig aufsagen kann: 41 mal 25 Meter. Und zehn Meter hoch. Natürlich weiß er das Gewicht: 120 Tonnen. Wohlgemerkt nur für die Bahn allein.
Die Bundesbahn berechnet als Verladegewicht rund 300 Tonnen. Dazu gehören ja schließlich auch Transporter und Wohnwagen. Und beim Auf- und Abbau unentbehrlich – ein Hydraulik- und ein ausgewachsener Baukran. Entsprechend kräftig bittet die Bahn zur Kasse. 28 Mark je Kilometer. Dazu ein Achszuschlag von zehn Mark. Der „Alpenblitz“ stand zuletzt in Dortmund. Die Reise nach Bad Neuenahr verschlang 5000 Mark.

Mordsding. Nonplusultra. Man redet in Schaustellerkreisen nicht gern vom Geld. Josef Schoeneseifen lässt nur zögernd die Katze aus dem Sack. 1,2 Millionen Mark hat die große Acht gekostet, über deren Schienenschleifen ein geschlossener Zug mit über 60 Stundenkilometern rast. „Die Abschreibungszeit: sieben bis acht Jahre“, verrät der Herr über das Millionending.

Er kommt seit 28 Jahren, ohne Unterbrechung, zur Bad Neuenahrer Kirmes. Am Anfang, 1949, stand eine „Meerschweinchen-Verlosung„. Zu gewinnen gab es Aluminium-Wasserkessel. Die pfiffen nachher in allen Küchen der Stadt. Überschlagschaukel, Moritzbahn, Jaguarbahn (inzwischen in der Hand der Tochter): „Wir haben uns vom Klein- zum Mittelunternehmen entwickelt“, sagt Schoeneseifen. „Hochgeschuftet!“ meint Richard Kociok. „Heute, na ja …“

Sohn Hans-Josef (21), sechste Generation der Schaustellerfamilie aus Köln, trägt tatsächlich heute die Hauptlast, wenn es gilt, den „Alpenblitz“ auf- und abzubauen. Aber der Vater ist meistens dabei. Wacht mit Argusaugen, feilscht an den Theodoliten um jeden Höhenzentimeter, wenn es gilt, die riesige Bahn exakt zu nivellieren.

Das ist auch notwendig. Gewicht und Geschwindigkeit des Wagenzuges bedingen ungeheure Fliehkräfte. Die Kurvenschienen, etwa 3,5 Meter lang, sind 25 Millimeter stark. Weil der Wagenzug, von Elektromotoren mit 250 Pferdestärken angetrieben, auf seinem wilden Ritt über zehn Meter Höhenunterschied in den Kehren mit 60 Tonnen auf die Gleise drückt. Die rund sechs Meter lange Geradeausschiene wiegt eine Tonne …

Auf dreimal 68 Laufrollen schießt der Wagenzug über die Acht der Alpenblitz-Bahn. Um genau zu sein: Diese Rollen haben unterschiedliche Funktionen. Von der Fortbewegung über die Schienenführung bis zur Gegenhalterung. Ständige Überprüfung ist erforderlich. Auswechseln des Öfteren. Ersatzräder kommen – für rund 300 Mark pro Stück – aus den Vereinigten Staaten. Das industrialisierende Deutschland besitzt die Materialien nicht, die einer solchen mit 60 Tonnen belasteten und etwa 3000 Umdrehungen pro Minute laufenden, sich erhitzenden Rolle gerecht würde.

„Sicherheit“, sagt Josef Schoeneseifen, „ist Trumpf.“ Im Zentrum der beiden Schienenschleifen, die eine Acht bilden, sind deshalb Ballastbecken mit je 16 Kubikmeter Wasser angebracht.
Nebenbei: Sie sind das Reservoir für Wasserspiele. Penibel vorsichtiger Aufbau ist ein weiteres Sicherheitselement. Das dritte heißt Elektronik. Der ganze Fahrbetrieb ist elektronisch gesteuert. Von der Beschleunigung der 250 PS starken Motoren bis zum Einsetzen der Luftbremsen.

„Ein Schausteller, der so ein Fahrgeschäft betreibt, muss nicht nur Kaufmann, sondern auch Techniker sein“, betont Josef Schoeneseifen. Das Werden des „Alpenblitz“ und den ersten Aufbau erlebte der Sohn bei wochenlangem Aufenthalt in der Herstellerfirma mit. „Ein- oder zweimal“, sagt er, „steht man danach noch mit dem Bauplan in der Hand auf dem Kirmesplatz. Dann hat man die Dinge im Kopf.“ Der Aufbau dauert auch dann 30 bis 35 Stunden. Außer zwei Kränen sind sechs bis sieben Mann erforderlich. Zum eiligen Abbau – etwa in 15 Stunden zu bewältigen – werden noch Aushilfen angeheuert.

Über 10 000 Glühbirnen und 40 Großscheinwerfer tauchen normalerweise den Alpenblitz in strahlendes Licht. Bad Neuenahr wird mit weniger zufrieden sein müssen. Für den gesamten Kirmesbetrieb steht ein Anschlusswert von 350 Kilowatt zur Verfügung. Schoeneseifen allein braucht bis zu 250 Kilowatt. Hier in Verbindung mit dem RWE Besserung zu erreichen, ist ein Anliegen aller Schausteller an die Stadt, der sonst sehr viel Lob gilt. Dem Liegenschaftssachbearbeiter, Walram Eidam, bescheinigen die Schausteller, jederzeit eine sehr ausgewogene Auswahl getroffen zu haben. Der Verwaltung gilt Dank für den zusätzlichen Höhepunkt das Feuerwerk am Montagabend. „Und dass die Straße mit einbezogen ist, schafft ganz besondere Atmosphäre“, meint Richard Kociok.

Auch der ist Dauergast auf Bad Neuenahrer Kirmessen. Mit seiner Frau zusammen betreibt er seit nunmehr 25 Jahren Imbissbetriebe auf Rummelplätzen. Von Hause aus war er Polizist. Bis er seine Anneliese kennen lernte, die freilich aus einer Schaustellerfamilie stammt und länger als ein Vierteljahrhundert von Kirmes zu Kirmes unterwegs ist.
Damals, 1952, baute sich Kociok seinen ersten Pavillon im Keller selbst, 4 mal 5 Meter groß. Auch der zweite war noch Eigenbau. Heute fährt er mit einem riesigen, 16 Meter langen Wagen über Land. Zum Aufschwung, verrät er, hat der Hähnchenboom von 1955 bis 1965 enorm beigetragen. Kociok trug ihm Rechnung, indem er sich eine Hahnengroßbraterei konstruieren ließ.

Die Platzverhältnisse in Bad Neuenahr lassen es zu seinem Leidwesen nicht zu, dass er auch das Restaurationszelt aufbaut, über das sein Kollege Schoeneseifen lapidar äußert: „Ein Spitzengeschäft!“ Ist es voll in Betrieb, dann arbeiten die Kocioks mit 30 bis 40 Angestellten. Legen Wert darauf, dass in adrettem Schwarz-Weiß bedient wird. Legen Stofftischdecken auf.

Verkaufs- und Kühlwagen; Zelt und Mobiliar – für den Transport braucht der Rüdesheimer sechs Großtransporter. Schwiegervater und Schwager sind gelernte Metzger. Einst haben sie vor den Augen der Kirmesbesucher halbe Schweine verarbeitet und verwurstet. Die Zeiten sind vorbei. Nicht zuletzt wegen der Hackfleisch-Verordnung, die mit ihren strengen Hygienevorschriften solche Aktivitäten unterbindet. Aber auch die Größenordnung des Geschäfts lässt die Wurst- und Fleischwarenproduktion am Ort nicht mehr zu. Kociok wird seit Jahren von einer Großschlächterei aus Frankfurt am Main beliefert.

Was Schoeneseifen und seinem „Alpenblitz“ der TÜV und die örtlichen Baupolizeibehörden sind, die jedes Jahr eine Abnahme des technischen Betriebs und an jedem Platz ihre Kontrollen vornehmen, das sind für Richard Kociok die Gesundheits- und Veterinärämter, die zu jeder Stunde Überprüfungen ansetzen können.

Aber nicht technische Sicherheit und Hygiene sind die eigentlichen Probleme. Im Chor, gewissermaßen, stöhnen die Schausteller über Personalmangel. „Trotz Arbeitslosigkeit und Spitzenlöhnen kaum etwas zu machen. Ich weiß nicht, woran es liegt“, klagt Schoeneseifen. Und rechnet vor: 150 Mark freies Geld pro Woche, dazu Verpflegung, freie Unterkunft, Soziallasten. „Alles in allem sind das 1500 Mark pro Mann und Monat, und das ist ja wohl für einen ungelernten Arbeiter eine ganz schöne Summe“, meint Kociok. Freilich muss hart gearbeitet werden, und die Reisen von Platz zu Platz sind wohl auch nicht jedermanns Sache. „Wenn man die Leute morgens wecken geht, muss man beten, dass sie alle noch da sind“, meint denn auch Schoeneseifen.

Glücklich sind die Schausteller darüber nicht, und keineswegs nur aus arbeitstechnischen Gründen. Man kennt sich. Viele sind „seit ewigen Zeiten“ dabei. Wie Louise Wittersheim aus Koblenz, die am Tag der Anreise zur Bad Neuenahrer Kirmes 80 Jahre alt wurde. Und der die Kollegen Blumen schickten.
Oder wie die Familie Weinand aus Remagen, einziges Geschäft mit wirklichen Schaustellern aus dem Kreisgebiet auf der Neuenahrer Kirmes. Sie kennen sich, sie tauschen Informationen aus, sie nehmen an persönlichen und familiären Dingen Anteil, sind lebende Chroniken nicht nur der eigenen Familie, sondern auch anderer Schaustellerdynastien.

Und das alles neben der Arbeit, die hart und risikoreich ist. Investitionen für Hunderttausende Mark. Und dann eine verregnete Saison … © Wolfgang Pechthold 

Abschrift vom originalen Zeitungsartikel © Margit Ramus

Pechthold, Wolfgang: Mit sechzig Sachen um die Kurve. Ahr-Eifel Ausgabe 228 vom 1/2.10.1977 

 

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